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ForumDas destruktive Erbe des Massenhungers

Forum / Das destruktive Erbe des Massenhungers
Kinder strecken ihre Gefäße aus, um in der Stadt Beit Lahia im nördlichen Gazastreifen Nahrung zu bekommen Foto: dpa/XinHua/Mahmoud Zaki

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In ihrem Beitrag stellt die Professorin für Gesundheitsmanagement und -politik Mariana Chilton Verbindungen zwischen dem Leid im Gazastreifen und den Verbrechen an der indigenen Bevölkerung Amerikas fest.

In dem Jahr seit dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 haben die israelischen Streitkräfte nach Angaben des Gesundheitsministeriums des Gazastreifens schätzungsweise 41.200 Palästinenser getötet, darunter 16.700 Kinder. Ein kürzlich in The Lancet veröffentlichter Brief geht jedoch davon aus, dass, wenn man die indirekt durch den Konflikt Getöteten mitzählt, die tatsächliche Zahl der Todesopfer im Gazastreifen viel höher liegt, nämlich bei mehr als 186.000.

Ein Faktor, der hierzu beiträgt, ist sicherlich die schwere Nahrungsmittelknappheit. Die israelische Blockade und die verheerenden Bombardements haben die Einfuhr und Auslieferung humanitärer Hilfsgüter verhindert. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen hat festgestellt, dass infolgedessen 96 Prozent der Bevölkerung des Gazastreifens von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen sind, wobei der Hunger bei mehr als zwei Millionen Menschen kritische oder schlimmere Ausmaße erreicht hat. Dies ist erzwungener Hunger, eine bekannte Taktik des Völkermords – und eine, mit der die Amerikaner nur allzu vertraut sind.

Massaker auch in Schutzzonen

Viele Amerikaner lernen derartige Grausamkeiten bereits in der Grundschule kennen. In den Schulbüchern wird erklärt, wie das US-Militär im frühen 19. Jahrhundert mit der systematischen Vertreibung der indigenen Bevölkerung begann, um deren Land zu stehlen. Die dabei angewandten Taktiken zielten darauf, die Bevölkerung auszuhungern, um ihre Entschlossenheit zu schwächen, und reichten vom Abschlachten von Millionen von Büffeln bis hin zur erzwungenen Umsiedlung dieser Gemeinschaften auf winzige Flächen. Selbst sogenannte Schutzzonen wurden angegriffen, so etwa, als das US-Militär 1890 rund 300 Lakota in Wounded Knee massakrierte.

Die israelischen Streitkräfte gehen im Gazastreifen ähnlich vor. Sie bombardierten – mit in den USA hergestellten Waffen – eine humanitäre Schutzzone und töteten dabei mindestens 40 Menschen, die dort in Zelten lebten. Das Militär nimmt zudem Mitarbeiter des Gesundheitswesens und der Hilfsorganisationen ins Visier und hat bereits mehr als 1.000 von ihnen getötet, darunter sieben bei der Auslieferung von Lebensmitteln angegriffene Mitarbeiter von World Central Kitchen.

Um die Folgen dieser Expansions- und Beherrschungspolitik zu verstehen, braucht man nicht weiter zu schauen als in die USA. Der Völkermord ist unter den dortigen indigenen Völkern ein historisches Trauma – vielleicht am besten als „Wunde der Seele“ zu verstehen –, das noch immer nachhallt. Die Souveränität der Ureinwohner wurde im 19. Jahrhundert durch Einrichtung des Reservatssystems, die spärliche Versorgung mit Nahrungsmitteln und andere ethnische Säuberungsmaßnahmen ausgehöhlt.

Die Folgen zeigen sich heute in der mangelhaften Unterbringung, der unzureichenden Gesundheitsversorgung und den unterfinanzierten Bildungsprogrammen für die verarmten indigenen Gemeinschaften der USA. Auch das durch die Assimilationspolitik des Bundes angeregte Internatssystem für amerikanische Ureinwohner fügte Zehntausenden von Kindern Schaden zu und machte sie anfälliger für Depressionen, Suizide und Suchterkrankungen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden können.

Darüber hinaus liegt die Ernährungsunsicherheit unter indigenen Gemeinschaften in den USA seit vielen Jahren bei etwa 25 Prozent, erreicht aber bei den Navajos (die sich selbst Diné nennen) 77 Prozent und bei den Völkern des Klamath River Basin im südlichen Oregon mehr als 90 Prozent. Im Gegensatz dazu waren laut einem Bericht des Economic Research Service des US-Landwirtschaftsministeriums im vergangenen Jahr 13,5 Prozent der Haushalte in den USA von Ernährungsunsicherheit betroffen und bei den weißen Amerikanern ist diese Quote mit 10 Prozent sogar noch niedriger.

Sklaverei, Völkermord und Rassismus

Bei meinen Untersuchungen zur Ernährungsunsicherheit bei Frauen und Kindern in den USA während des letzten Vierteljahrhunderts habe ich viele schwarze und farbige Frauen zu ihren Schwierigkeiten bei der Ernährung ihrer Familien befragt. Immer wieder gewährten sie mir Einblicke nicht nur in das vergangene Jahr, sondern auch in ihre von Gewalt und Entbehrungen geprägten Kindheitserfahrungen. Oft waren schon ihre Eltern und Großeltern von Armut betroffen; einige berichteten sogar von fünf Generationen voller Entbehrungen. Diese Lebensläufe sind von der amerikanischen Geschichte der Sklaverei und des Völkermords geprägt, die einen Kreislauf von Rassismus und Diskriminierung ausgelöst haben, der sich bis heute fortsetzt. Die ursprünglichen Schäden sind durch niedrigere Löhne für die farbige Bevölkerung und eine rassendiskriminierende Gesundheits-, Sozial- und Pflegeunterbringungspolitik in das amerikanische Familienleben eingeflochten.

Die US-Regierung kann und sollte einige unmittelbare Maßnahmen ergreifen, wie die Wiedereinführung der befristeten Ausweitung des Steuerfreibetrags für Kinder und das Angebot einer allgemeinen Schulspeisung (beides wichtige Hilfen für US-Familien während der Covid-19-Pandemie) sowie die Verbesserung des Zugangs zur Gesundheitsversorgung. Doch obwohl diese Maßnahmen das allgemeine Niveau der Ernährungsunsicherheit senken können, können sie die Ungerechtigkeiten, die dazu führen, dass Frauen und Kinder farbiger Herkunft häufiger von Hunger betroffen sind, nicht beseitigen.

Schwerwiegende Folgen

Die von mir befragten Mütter wünschen sich, dass die politischen Entscheidungsträger die eigentliche Ursache des Hungers in den USA angehen: die rassisch und geschlechtsspezifisch bedingte Gewalt in Familien und Gemeinschaften, die auf Amerikas Erbe der Sklaverei und des Völkermords zurückgeht. Die US-Regierung hat ihre Sünden aus der Vergangenheit nicht gesühnt, und solange sie kein Land zurückgibt und keine Reparationszahlungen leistet, werden diese ursprünglichen Traumata nicht geheilt und die Ungleichheit bei der Ernährungssicherheit wird fortbestehen.

Wenn man heute den Hunger und das Leid in Gaza sieht, wird man an die anhaltenden Folgen der spaltenden Geschichte der USA erinnert. Das unerträgliche Trauma sollte die politischen Entscheidungsträger der USA zwingen, sich zu fragen, wie diese Grausamkeit beendet und Wiedergutmachung geleistet werden kann. Wie in Gaza wäre ein sofortiger „Waffenstillstand“ ein guter Anfang. Die schwierigere und dringendere Aufgabe für die US-Regierung jedoch besteht darin, das Geld, das für Bomben ausgegeben wird, in soziale Programme umzuleiten, die eine Nahrungsmittelversorgung, Bildung und Gesundheitsversorgung für alle gewährleisten.

 Foto: Project Syndicate

*Mariana Chilton ist Professorin für Gesundheitsmanagement und -politik an der Dornsife School of Public Health der Drexel University, Gründerin des Center for Hunger-Free Communities und Verfasserin von „The Painful Truth about Hunger in America: Why We Must Unlearn Everything We Think We Know – and Start Again“ (MIT Press, 2024).

Aus dem Englischen von Jan Doolan.

Copyright: Project Syndicate, 2024

www.project-syndicate.org

Luxmann
24. Oktober 2024 - 10.10

Interessanter artikel mit guten historischen vergleichen.
Und der auch daran erinnert dass die probleme der USA nicht mit Trump anfingen,sondern dass es in den vergangenen jahrhunderten schon aehnlich dubiose und sogar erheblich dubiosere figuren gab ,welche die US politik praegten .