In der Skandalnot nimmt Ungarns Premier Viktor Orban das Heft des Handelns vorsorglich selbst in die Hand. Es gebe „kein Pardon für Kinderschänder“, versicherte der unter Rechtfertigungsdruck geratene Chef der nationalpopulistischen Fidesz-Partei bereits in der letzten Woche in einer Videobotschaft an die Nation – und kündigte die Aufnahme eines Begnadigungsverbots für pädophile Straftäter in der Verfassung an: „Wir müssen eine glasklare Situation mit glasklaren Entscheidungen schaffen.“
Glasklar ist allerdings wenig bei dem sich ausweitenden Skandal um die bereits im letzten April bewilligte, aber zunächst vertuschte Begnadigung des in einen Kindermissbrauchsskandal verstrickten Vize-Direktor des Waisenhauses in Bicske. Zwar sind mit der die Begnadigung bewilligenden Staatschefin Katalin Novak und Ex-Justizministerin Judit Varga die direkt verantwortlichen Würdenträger am Wochenende von allen politischen Ämtern zurückgetreten. Doch die Frage, auf wessen Betreiben und mit welcher Begründung der Mann begnadigt wurde, bleibt trotz des Doppelrücktritts weiterhin offen.
Wegen des mehrfachen sexuellen Missbrauchs seiner Schützlinge war der Leiter des Waisenhauses in Bicske 2019 zu acht Jahren Haft verurteilt worden. 3,5 Jahre Haft und ein Berufsverbot von fünf Jahren bekam damals dessen Stellvertreter Endre K. aufgebrummt. Der Grund: Der Mann hatte vergeblich versucht, die Opfer seines straffällig gewordenen Vorgesetzten per Erpressung zur Rücknahme ihrer Zeugenaussagen zu nötigen.
Ende 2021 trat Endre K. seine Haftstrafe an und wechselte Anfang 2023 in den offenen Vollzug. Bei seiner Begnadigung anlässlich des Papstbesuches im April 2023 wurde seine Reststrafe in eine Bewährungsstrafe umgewandelt – und das Berufsverbot ausgesetzt.
Bischof spielte offenbar Schlüsselrolle
Sie habe einen „Fehler gemacht“, aber würde niemals wissentlich einen Straftäter begnadigen, der physisch oder psychisch Kinder missbraucht habe, versicherte die Präsidentin und frühere Familienministerin Novak bei ihrem mit einem Vaterunser-Zitat besiegelten Blitzrücktritt.
Dass Orbans loyale Statthalterin im Präsidentenpalast selbst auf die fatale Begnadigungsidee kam, wird von Beobachtern ausgeschlossen: Das Webportal „Direkt36“ schreibt stattdessen dem calvinistischen Bischof und früheren Minister Zoltan Balog eine angebliche Schlüsselrolle bei der Begnadigung zu: Der Kirchenmann gilt als enger Freund der Familie des Premiers.
Schon seit Jahren pflegt die Regierung ihre homophoben Ausfälle gegen Schwule und Lesben mit der erklärten Sorge um den „Schutz der Kinder“ zu verbrämen. Doch ausgerechnet kurz vor der Europawahl und der anvisierten Wiedereroberung des von der Opposition gehaltenen Rathauses in Budapest bei den Kommunalwahlen im Frühjahr fällt der Pädophilie-Skandal auf die Partei der selbsterklärten Saubermänner wie ein Bumerang zurück.
Orbans Versuch der Schadensbegrenzung durch zwei schnelle Bauernopfer hat vorläufig ein ausgemachter Kenner des Budapester Machtfilz durchkreuzt: Der Rechtsanwalt Peter Magyar, der frühere Mann der als Spitzenkandidatin für die Europawahl abgetretenen Ex-Ministerin Varga, wittert die „wirklich Schuldigen“ für die Begnadigung im direkten Umfeld von Premier Orban.
Skandal reicht bis in die Staatsspitze
Es sei „inakzeptabel“, dass das „halbe Land von einer Handvoll Familien kontrolliert“ werde, klagte Magyar und forderte Orbans Kabinettschef Antal Rogan zum Rücktritt auf – den Mann, der in Budapest nicht nur die Regierungskommunikation, sondern auch die Geheimdienste kontrolliert.
Noch sitzt Orban weiter fest im Sattel. Doch der Wirbel kommt seiner Partei im Wahljahr äußerst ungelegen. Die „Machtmaschine“ laufe bei der „Behebung der Schäden auf vollen Touren“, kommentiert die Wochenzeitung Magyar Hang: „Doch es sieht so aus, als hätten die Machthaber mehr lose Enden zu verknüpfen, als sie geplant hatten.“
Der Missbrauchsskandal reiche bis in die „höchsten Zirkel der Macht“ und bedrohe die „Fundamente des Orban-Regimes“, konstatiert das renommierte „Political-Capital-Institut“ in Budapest in seiner zu Wochenbeginn veröffentlichten Analyse. In dessen „autoritären System“ mangle es an externen und internen Kontrollen, erklärt das Institut dessen Versagen: „Erhaltene Anweisungen werden ausgeführt – ohne Widerrede.“
De Maart
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