Es war einmal eine Social-Media-Plattform, auf der in der cinephilen Blase einmal eine sehr bizarre Diskussion losgetreten wurde. Die unnötigste Sexszene in einem Film oder einer Serie, so lautete in etwa der Wortlaut. Alle hatten eine Szene oder einen Moment beizutragen und plötzlich hatte man den Eindruck, dass jeder freigelegte Quadratzentimeter Haut und jede sinnliche oder gar versaute Filmszene am Pranger stand. #FilmTwitter, wie es leibt und lebt. Das amerikanische Kino ist aber seit einiger Zeit komplett ausgetrocknet, wenn es um libidinöse Tendenzen geht. Dieser Puritanismus, egal ob im Namen irgendeiner Moral- oder Drehbuchvorstellung, macht schon seit längerer Zeit die Runde. Nicht nur in den Socials oder auf der Leinwand, sondern auch im größeren (amerikanischen) Gesellschaftsbild. Bühne frei für Bella Baxter, die wahrscheinlich horny-ste Protagonistin aus dem Hollywood der letzten Jahre.
Es war einmal ein verrückter Professor, irgendwo zwischen Viktor Frankenstein und einem verstümmelten Kirk Douglas, der eines Tages eine schwangere Frau aus der Themse fischte. Aus unerklärlichen Gründen hatte diese sich für den Freitod entschieden. Enter Professor Godwin Baxter. Kurzerhand tauscht der sehr experimentierfreudige Arzt das Hirn der gerade mal verstorbenen, noch lauwarmen Frau mit dem ihres ungeborenen Kindes, und mit der Hilfe von elektrischer Energie – wir kennen das Prozedere vom OG Frankenstein – ist das Monster Bella Baxter zum Leben erweckt. Bella watschelt wie ein in aller Hinsicht unkoordiniertes Kleinkind durch das barocke Setting ihres Schöpfers – sie nennt ihn God, weil Godwin – und lernt im Rekordtempo zu kommunizieren und sich zu benehmen. Wobei, ihr Benehmen ist hemmungslos und weitab jeglicher gesellschaftlicher Codes. „What a very pretty retard“ – das Experiment Bella ist in den Augen von Godwin Baxter und seines Assistenten Max McCandless ein voller Erfolg. Bella bleibt aber nicht lange diese kindliche Personifikation der Unschuld. Spätestens nicht mehr, als sie sich am Frühstückstisch einen Apfel – jaja, get it, einen Apfel, die Frucht der Erkenntnis und Sünde – zwischen die Beine führt, Duncan Wedderburn (diese Namen!) kennenlernt und mit ihm das „furious jumping“ zum ersten Mal vollzieht. Plötzlich will Bella mit Duncan in die weite Welt hinaus und vor allem eins: sehr viel Sex haben.
Es war einmal der griechische Filmemacher Giorgos Lanthimos, der nach fünf Jahren wieder im Kino anzutreffen ist. „Poor Things“ ist seine vierte Arbeit in englischer Sprache und, wie schon „The Favourite“ vorher, ein ernstzunehmender Kandidat im Oscar-Rennen. Bisweilen gab es in Venedig den Leone d’Oro und vorletztes Wochenende die Golden Globes für den besten Film und für Hauptdarstellerin Emma Stone. Die Parallelen zum anderen Favoriten (sic!) „Barbie“ liegen auf der Hand. Wenn in Greta Gerwigs Film jede Puppe eine „Weird Barbie“ wäre, dann wäre das Resultat vielleicht „Poor Things“. Aber jetzt mal ganz im Ernst: Bellas von Mark Ruffalo mit Gusto gespielter Liebhaber ist das Pendant zu Ken – Bella entzieht ihm alle „Kenergy“, bis dass dieser nicht mehr „kenough“ ist –, mit dem die Protagonistin die Welt kennenlernt und so manch eine böse Überraschung erlebt.
Erstes Highlight 2024
Und vor allem erzählt „Poor Things“, „Barbie“ nicht unähnlich, hinter seinem feministischen Gewand weitaus Interessanteres über das männliche Geschlecht. Vielleicht sogar über die männliche Psyche und die Fantasiewelt der Filmemacher hinter dem Film. Subtil ist die ganze Chose dabei wirklich nicht – wir erinnern uns an den Apfel zwischen Bellas Beinen. Die Derbheit „of it all“ hat aber ihr Gutes. Stone und Ruffalo bekommen eine Bühne für ein Spiel geboten, welches man von ihnen nicht unbedingt kennt. Natürlich hat Emma Stone schon in Lanthimos’ Vorgängerfilm auftreten dürfen, aber der Bogen ihrer Figur jetzt, den sie neben dem Sprachgebrauch auch körperlich macht, ist das Interessanteste an „Poor Things“. Das auf die Spitze getriebene Hochenglisch, mit dem theatralischen Pantomime-Affekt im Spiel und mit Dialogen wie „Stop being such a cunt about it!“ verknüpft, ist wirklich sehr, sehr lustig. Keine Vulgarität wird ausgelassen. Das hatte schon Olivia Colman für ihre Rolle als Queen Anne in „The Favourite“ den Oscar eingebracht. Aber irgendwann drehen sich die kruden Dialoge im barocken „Amélie Poulain“ auf Steampunk-Amphetamine-Setting im Kreis und es wird bei 140 Minuten Filmlänge mitunter einen Funken anstrengend.
Wie sie aus den von den Männern in ihrem Leben gebauten Käfigen immer wieder ausbricht, mit ihrer Libido den narzisstischen Womanizer kastriert und, jegliche gesellschaftliche Konventionen außer Acht lassend, durchs Leben geht –… die sexuell sehr freizügige Coming-of-Age-Geschichte von Bella Baxter ist durchaus interessant. Aber wenn Bella irgendwann in einem Paris Bordell zu arbeiten beginnt, stoßen Geschichte und Film auf eine nicht unproblematische Grenze. Spätestens dann wird Bella eine Fantasiepuppe von Regisseur Lanthimos und Drehbuchautor Tony McNamara, der hier einen Roman des schottischen Autors Alasdair Gray adaptiert. Die Botschaft von körperlicher Selbstbestimmung wird bei ihnen dann doch zu oberflächlich. Vor allem, weil Bellas Bedürfnisse stets überschaubar bleiben und sie in ihrem Auftreten stets auf Distanz bleibt. Ihre (sexuelle) Befreiung ist (und das, obwohl der Regisseur eine überraschende Empathie gegenüber seinen Figuren an den Tag legt) nur eine Waffe gegen das Patriarchat. Nichtsdestotrotz bleibt „Poor Things“ ein erstes Highlight des neuen Kinojahres, welches eventuell sogar Lanthimos-Verleumder umstimmen könnte.
„Poor Things“ von Giorgos Lanthimos, mit u.a. Emma Stone, Mark Ruffalo, Willem Dafoe, zu sehen in den Multiplexkinos Kirchberg und Belval, im Ciné Utopia, sowie den Regionalkinos von Cinextdoor.
De Maart
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