Keine andere Kunstform ist so vergänglich wie die Musik. Sie erklingt in einem Moment und ist im nächsten schon wieder weg. Live-Konzerte sind unwiederbringlich. Natürlich gibt es CD, Vinyl und DVD, die uns das Immer-wieder-Hören möglich machen, aber ein Live-Konzert ist unwiederholbar. Selbst auf einer Tournee wird das gleiche Programm mit den gleichen Ausführenden immer ein anderes Resultat ergeben. Beste Konzerte sind also pure Erinnerung und können nie mehr verifiziert werden. Beste Konzerte hängen vom Moment ab, von der Befindlichkeit der Musiker und der einzelnen Zuhörer, von sozialen, politischen, menschlichen Faktoren, von Akustik, von Wetterbedingungen, von Stressfaktoren. Trotzdem gibt es sie und hoffentlich trägt jeder in seinem Herzen eine Menge unvergesslicher Konzertmomente. 2023 habe ich in Luxemburg (bis zum 11. Dezember) 70 Konzerte besucht, die allermeisten in der Philharmonie. Von diesen 70 sind mit sehr viele in bester Erinnerung geblieben, aber meine persönlichen fünf Highlights sind folgende:
Sternstunde in Sachen Wagner
Am 11. Februar dirigierte Sir Simon Rattle eine konzertante Aufführung von Richard Wagners Musikdrama „Siegfried“. Ein absoluter Höhepunkt, weil das Orchesterspiel während drei Akten und einer Dauer von fast fünf Stunden in jedem Moment phänomenal war und Rattle sich als ein begnadeter Wagner-Dirigent erwies. Simon O’Neill war ein grandioser Titelheld, der sowohl mit einer gesunden Stimmkraft, als auch mit unermüdlichen Reserven und schönem lyrischen Gesang auftrumpfen konnte. Ihm zur Seite standen Peter Hoare, dessen Mime ohne das übliche Gekeife auskam und dabei tatsächlich toll gesungen wurde, Georg Nigl als ebenfalls belcantesk singender Alberich und der unvergleichliche Michael Volle als stimmgewaltiger und persönlichkeitsstarker Wanderer. Anja Kampe als Brünnhilde begeisterte dann noch zum Schluss im Duett mit Simon O’Neill und vervollständigte so ein erstklassiges und heute kaum noch zu überbietendes Sängerensemble, dem ebenfalls Franz-Josef Selig (Fafner), Gerhild Romberger (Erda) und Danae Kontora (Waldvogel) angehörten.
Weltklasse mit Schostakowitsch
Musikalische Sternstunden sind auch mit dem Luxembourg Philharmonic möglich, denn immer wieder, und vor allem immer öfter zeigt das Orchester, dass es durchaus auf Weltklasseniveau spielen kann. Wie am 28. September, wo das Orchester von dem finnischen Dirigenten Jukka-Pekka Saraste geleitet wurde. Auf dem Programm standen Mahlers Lieder eines fahrenden Gesellen mit dem exzellenten Bariton Georg Nigl, der sich höhensicher, textverständlich und mit wunderbarem legato als erstklassiger Liedinterpret empfahl. Saraste konnte Mahlers Orchesterfarben sehr schön offenlegen – desgleichen in der folgenden 4. Symphonie von Dimitri Schostakowitsch, wohl eine der anspruchsvollsten Symphonien für ein Orchester aus dem 20. Jahrhundert. Saraste gehört dann wohl auch zu den Lieblingsgastdirigenten des Luxembourg Philharmonic, sodass sich die Musiker hier problemlos zu einer Weltklasseleistung an Intensität, Durchschlagskraft, Präzision und Spielfreude animieren ließen.
Trifonov und das Philadelphia Orchestra
Am 27. und 28. Oktober spielte dann das Philadelphia Orchestra zwei Rachmaninoff-Konzerte im großen Saal der Philharmonie. Nicht die Werke selbst, sondern vor allem die musikalischen Interpretationen verdienen die Auszeichnung „besonders wertvoll“. Da war zum einen der unvergleichliche Daniil Trifonov, der sowohl bei der Paganini-Rhapsodie als auch beim 4. Klavierkonzert zeigte, dass er zu den weltbesten Pianisten und Interpreten gehört und in einer Liga spielt, die für die meisten, oft sogar hervorragenden Pianisten niemals zu erreichen ist. Yannick-Nézet Séguin, der Chef des Philadelphia Orchestra und der New Yorker MET, gehört ebenfalls zu dem kleinen, erlesenen Kreis von wirklichen Weltklasse-Dirigenten. So wurde die 1. Symphonie, ein virtuos inszeniertes und rhythmisch prägnantes Jugendwerk, zu einem Hörerlebnis – das, gerade weil sich der Dirigent nicht auf eine intellektuelle Ebene stellte, sondern die Musik aus dem Bauch heraus dirigierte und somit für das Publikum problemlos erlebbar machte. Auch die gefährlich pathetische und in meinen Augen zu langen 2. Symphonie wusste Nézet-Séguin mit einem ausgewogenen Gefühl von Lyrismus, Klangopulenz und markant-explosivem Musizieren nicht nur erträglich zu machen, sondern das Publikum von ihren Stärken und expressiven Intensität zu überzeugen, ohne jemals ins Süßliche abzurutschen. Die Standing Ovations waren an beiden Abenden mehr als gerechtfertigt, denn ein derart perfektes, klanggewaltiges und lebendiges Orchesterspiel hört man selten.
Gerald Finley und Julius Drake
Einen Liederabend der Sonderklasse erlebte das Publikum am 22. November. Der kanadische Bariton Gerald Finley beeindruckte nicht nur mit einer prächtigen Stimme, sondern vor allem mit sehr ausgefeilten, textbezogenen und stilistisch einwandfreien Interpretationen, die sowohl die Lieder und Balladen von Robert Schumann und Franz Schubert, als auch die Lieder von Heni Duparc zu wirklichen Hörerlebnissen machten. Finleys markanter Bariton traf dann bei Schumann und Schubert auch immer den rechten Ton, blieb kraftvoll in der Aussage, sensibel in der Textbehandlung und weich im Vortrag. Bei Duparc wusste Finley seine Stimme zurückzunehmen und mit natürlichem Atem und einer perfekten Phrasierung diese Lieder mit großer Schönheit und Intensität zu gestalten. Es folgten einzelne Lieder von Benjamin Britten, Graham Peel, Ralph Vaughan Williams, Franz Liszt, Charles Ives und Cole Porter, die auf der einen Seite in dieser losen Zusammenstellung nach den drei vorangegangenen „Zyklen“ dramaturgisch keinen richtigen Sinn ergaben, auf der anderen aber die Vielseitigkeit des kanadischen Sängers unterstrichen. Der Titel des Liederabends war „One voice, one piano“ und wies somit direkt auf die Wichtigkeit des Pianisten hin. Dieser war an dem Abend der legendäre Julius Drake, und ich muss zugeben, ich habe selten so eine schöne und perfekte Begleitung gehört wie durch Drake. Nicht nur, dass Drake sich auf idealste Weise auf seinen Solisten einschwang, er brachte dazu noch das Klavier in einer Weise zum Klingen, wie man es selten bei einem Liederabend hört. Das waren Liedgesang und Liedbegleitung in ihrer pursten und besten Form.
Quatuor Diotima, perfektes Kammerkonzert
Das mit Abstand beste Kammerkonzert war für mich das Konzert mit dem Quatuor Diotima am 29. November. Mit den jeweils zwei Streichquartetten von Leos Janacek und Györy Ligeti hatte das Quartett ein unheimlich interessantes, spannendes und lehrreiches Programm zusammengestellt. Hochkarätig wurde das Konzert durch die intensiven Interpretationen. Das Quatuor Diotima zeigte, wie musikantisch man Ligetis Quartette aus den fünfziger resp. sechziger Jahren spielen kann, ohne dabei auf eine konsequent analytische und strukturbetonte Interpretation zu verzichten. Und wenn sich dann objektive Leseart mit einem Maximum an Herzblut, Engagement und Expressivität vermischt, ist höchste Musizierkunst angesagt. Bei Janacek verhielt es sich umgekehrt. Hier stand die Expressivität im Vordergrund, wurde aber durch eine minutiös ausgearbeitete und in den Linien sehr klare und transparente Interpretation in eine eher moderne Richtung gelenkt. Doch auch bei diesen beiden Quartetten von Janacek aus den Jahren 1926 und 1928 verschmolzen Form, Ausdruck und Spielstil zu einem großen, atemberaubenden Klangerlebnis, das jeden im Saal tief berührte.
De Maart
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