Mittwoch31. Dezember 2025

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Kinowoche„The Holdovers“ von Alexander Payne: Wie eine kratzige Winterwolldecke

Kinowoche / „The Holdovers“ von Alexander Payne: Wie eine kratzige Winterwolldecke
Angus Tully (Dominic Sessa, links) und Paul Hunham (Paul Giamatti) in „The Holdovers“ Foto: 2023 Focus Features LLC

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Gute Filmemacher wussten schon immer, dass die wichtigste Zutat für einen wunderbaren Weihnachtsfilm eigentlich nur das Eingeständnis ist, dass die Feiertage inhärent traurig sind. Die besten Weihnachtsfilme aller Zeiten wie Minellis „Meet Me In St. Louis“, „It’s A Wonderful Life“ von Frank Capra oder im Animationsfilm „Tokyo Godfathers“ von Satoshi Kon oder „A Charlie Brown Christmas“ bestätigen diese Regel. Jetzt meldet sich der Amerikaner Alexander Payne nach einer sechsjährigen Schaffenspause – verständlich, „Downsizing“ hätte vielleicht eine noch längere verdient – mit einem Weihnachtsfilm zurück, der mit Paul Giamatti potenziell die personifizierte Traurigkeit mit sich bringt.

Für „The Holdovers“ der übrigens nur wegen der französischen Verleiher hier „Winter Break“ heißt; man will den Franzosen ja nicht allzu viele komplizierte englische Wörter zumuten müssen – wagt sich Payne das erste Mal in seiner Karriere an ein Zeitstück. Im „Midwest“ von Massachusetts der frühen 1970er setzt der Regisseur die Geschichte seines immerhin schon siebten Spielfilms an. Es weihnachtet sehr und auch an der Privatschule, wo man die Hauptfiguren kennenlernen wird, ist die Vorfreude groß, den Schulgemäuern für ein paar Tage den Rücken zu kehren. Doch nicht allen ist es vergönnt, die Feiertage mit ihrer Familie zu verbringen. Das hat allerlei Gründe. Aber keiner dieser Gründe mindert den Gram des sowieso schon sehr griesgrämigen Lehrers Paul Hunham, als dieser sich gezwungen sieht, sich um eine Handvoll Schüler zu kümmern, die während der Feiertage am Schulcampus zurückbleiben. Mit einem dieser Schüler, dem schlaksigen, klugen und geistesgegenwärtigen Unruhestifter Angus Tully, sowie der Schulköchin Mary, die erst kürzlich ihren Sohn im Vietnamkrieg verloren hat, entwickelt Hunham langsam – Weihnachtsfilm oblige – eine recht unwahrscheinliche Verbindung.

Mit der sortie en salles von Alexander Paynes „The Holdovers“ sowie „Priscilla“ von Sofia Coppola nächsten Monat verbindet der Autor dieser Zeilen so einiges. Coppolas „Lost In Translation“ und vor allem „Sideways“ von Alexander Payne waren 2004/05 ganz persönliche spirit animals des damals 15-Jährigen – yes, time f****** flies. Wie sich ein Pubertierender mit den Midlifekrisen zweier Depressiven wie jener, die Bill Murray und Paul Giamatti damals verkörperten, so identifizieren konnte, bleibt rückwirkend ein Thema, welches eher mit dem Therapeuten als mit der Tageblatt-Leserschaft geklärt werden soll. Tatsache bleibt aber, dass die Entdeckung dieser beiden Filme im Ciné Utopia zwei Grundsteine meiner persönlichen Cinephilie ausmachten. Nach „Marie Antoinette“ verlor Sofia Coppola aber irgendwie den künstlerischen Norden und auch das lang ersehnte Zusammenfinden mit Murray war eher gediegen. Auch Alexander Payne riss seither niemanden so wirklich vom Hocker. Ob das Zweiergespann Payne/Giamatti im weihnachtlichen Setting das ändert?

„The Holdovers“ ist ein in jeder Hinsicht überdurchschnittlich guter Weihnachtsfilm. Und das, obwohl man den Pitch des Films mit seinem ungleichen Zusammenkommen von ganz konträren Figuren, die es sich nicht aussuchen durften, miteinander Zeit zu verbringen, mehr als nur etliche Male gelesen und gesehen hat. Der Faktor Paul-Giamatti-in-einem-Alexander-Payne-Film ist aber tatsächlich ausschlaggebend. Und genauso ausschlaggebend ist das Geschenkpapier, in dem dieser Film eingepackt wurde. Obschon digital gefilmt, gibt sich der Spielfilm alle Mühe der Welt, analoger und mehr alte Schule zu sein als die besoffenen reaktionären Sprüche einiger Verwandten beim Weihnachtsfest jetzt am Wochenende. O Freude über Freude! Schwerst grobkörnig, hie und da falsche Filmkratzer und sogar unklare Filmränder – mit sehr viel Filter-Magie in der Postproduktion ist ein Schritt gemacht, den Film aus der Zeit gefallen wirken zu lassen.

Nicht ohne Grund ist Paul Giamattis Figur nicht nur eine, die sich einen perfiden Spaß daraus macht, Schüler über weite Strecken als Troglodyten, Faulenzer und knurrende Westgoten zu verunglimpfen. Fetid layabouts und snarling Visigoths klingt im englischen Original weitaus poetischer. Sie ist aber auch eine Figur, die, wenn nicht nach Tabak oder Alkohol riechend, ganz natürlich nach Fisch stinkt. Vor allem am Ende des Tages. Payne macht aus seiner Muse Giamatti, einem Charakterdarsteller mit angeborenem körperlichem Charakter, eine richtige Fresse, indem er ihm zusätzlich einfach eine Augenfehlstellung, ein träges Auge verpasst. „The Holdovers“ ist für Alexander Payne kein einfacher nostalgischer Blick nach hinten – der Wunsch einer besseren Zeit –, sondern der Wunsch, ein längst vergangenes Kino für zwei Stunden wieder aufleben zu lassen. In keinem anderen Kino wie im amerikanischen New Hollywood der 1970er hatten Spieler*innen mit richtigen Fressen das Potenzial, Stars zu werden. Giamatti ist hier definitiv der Star. 

Das zentrale Trio aus Giamatti, Da’Vine Joy Randolph als trauernde Mutter und Köchin Marie – sehr toll, wenn auch die undankbarste Rolle der drei – und Dominic Sessa als junger Angus geben unabhängig von Paynes ästhetischen Weihnachtswünschen alles. Sessa ist natürlich die Überraschungsfresse, weil tatsächlich sein erster Auftritt überhaupt in einem Film. Der Sinn für komödiantischen Rhythmus scheint wie angeboren. Er weiß diesen aber nicht nur körperlich, sondern auch im Zusammenspiel mit den anderen Darstellern zu kanalisieren. Und das ist das eigentliche Geschenk dieses Weihnachtsfilms. Die Oscar-Nominierung für Giamatti ist sicher, für Sessa eine Möglichkeit. Dennoch entlocken diese fantastischen Schauspieler dem Film nicht den nötigen emotionalen „Oomph“. Vielleicht, weil das Drehbuch keine großen dramaturgischen Sprünge macht, vielleicht aber auch, weil das technische Dispositiv so darauf aus ist, den Film wie eine von Hand gestrickte kratzige Winterwolldecke wirken zu lassen.

„The Holdovers“ von Alexander Payne; mit u.a. Paul Giamatti, Dominic Sessa und Da’Vine Joy Randolph.