Was bedeutet das Ergebnis von Rutherglen? Seine Partei habe „die Türen weggesprengt“, begeisterte sich der normalerweise eher milde auftretende Starmer vor Ort. Tatsächlich holte der neue Abgeordnete Michael Shanks 59 Prozent der Stimmen und ließ die SNP-Kandidatin (28) weit hinter sich. Plötzlich scheint für Labour ein Ergebnis möglich zu sein wie 2010, als die damals dominante Partei in Schottland 41 von 59 Unterhaussitzen gewinnen konnte. Beim jüngsten Urnengang 2019 war davon ein einziges Mandat übriggeblieben. Nicht umsonst sprach Starmer von einem „historischen Tag“ – für seinen Wahlsieg im kommenden Jahr benötigt der Oppositionsführer unbedingt wenigstens zwei Dutzend schottische Sitze, um sich die ohnehin gewaltige Aufgabe im größten Landesteil England zu erleichtern.
In schönster schottischer Untertreibung sprach SNP-Ministerpräsident Humza Yousaf von einer „Enttäuschung“. Der 38-Jährige beerbte im März die hochpopuläre Nicola Sturgeon, ehe diese in ein kriminalpolizeiliches Ermittlungsverfahren der Parteifinanzen verstrickt wurde. Der Traum von der Unabhängigkeit ist in weite Ferne gerückt, die Nationalisten müssen sich nach zuletzt hervorragenden Wahlergebnissen auf magere Zeiten einstellen.
Freilich wiesen Fachleute auch auf besondere Faktoren hin: Wie stets bei Nachwahlen lag die Wahlbeteiligung bei niedrigen 34 Prozent. Zudem hatte die frühere SNP-Abgeordnete Margaret Ferrier ihr Mandat verloren, nachdem sie wegen Verstößen gegen den Covid-Lockdown rechtskräftig verurteilt worden war. Und Rutherglen gehört zu jenen Wahlkreisen, die schon bisher zwischen Labour und der SNP schwankten.
Dritte Phase der Amtszeit
Dennoch: „Das Ergebnis hat das politische Wetter verändert“, glaubt BBC-Chefkommentator Chris Mason. Dazu passt, dass sich die Briten völlig unbeeindruckt vom kürzlichen Parteitag der Konservativen und deren heftigen Angriffen auf Starmer zeigen: Den jüngsten Umfragen zufolge verfügt Labour (45) weiterhin über einen 21-Punkte-Vorsprung vor der Regierungspartei (24) von Premier Rishi Sunak.
Welche Stimmung wird in Liverpool herrschen? Die Wetterfrösche sagen Labour sonnige Tage voraus, Parteimitglieder reisen mit stolzgeschwellter Brust an den Mersey-Fluss. Die Parteiführung mahnt zur Vorsicht: Jeder Anflug von Triumphalismus müsse unbedingt vermieden werden.
Seit mehr als sechs Monaten teilt Starmer interessierten Fragenden stets mit, er befinde sich in der dritten Phase seiner Amtszeit als Labour-Chef. Zunächst habe er die Partei vom giftigen Erbe seines Vorgängers Jeremy Corbyn – Antisemitismus, Mangel an Patriotismus, Feindseligkeit gegenüber Amerika und der EU – befreien müssen. Dann sei es darum gegangen, die Politik der Tory-Regierung als inkompetent und wenig zukunftsorientiert zu brandmarken – eine Aufgabe, die der Opposition durch die Chaos-Regierungen von Boris Johnson und Liz Truss erleichtert wurde.
Starmer übt sich in Zurückhaltung
Nun müsse Labour, drittens, eine Antwort geben auf die Frage: „Wenn nicht die anderen, warum sollen die Leute uns wählen?“ Den Umfragen zufolge ist Starmer diese Antwort bisher schuldig geblieben, weshalb notorisch vorsichtige Wahlstrategen sich Sorgen machen über die „breite, aber nicht sonderlich tiefe Unterstützung“ für ihre Partei. In Liverpool soll deshalb viel von „positiven Argumenten für Veränderung“ die Rede sein, Stichworte wie „Respekt“, „Realismus“ und „fiskalische Verantwortung“ stehen im Raum. Mit Hinweis auf die hohe Staatsverschuldung (100,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts BIP) macht Schatten-Finanzministerin Rachel Reeves hinter alle ehrgeizigen Reformprojekte in der Klimapolitik, bei Schulen und Krankenhäusern ein dickes Fragezeichen.
Wie positioniert sich Starmer? Staatsmännisch. Unbedingt will der Oppositionsführer den Eindruck vermeiden, er lasse sich in der Euphorie zu leichtfertigen Versprechungen hinreißen. So kritisierte der 61-Jährige die Regierungsankündigung, eine geplante Eisenbahn-Schnellstrecke zwischen Birmingham und Manchester nicht zu bauen, sagte aber auch: „Ich kann keine Verpflichtung eingehen, diese Entscheidung zu revidieren.“
Bei Reisen nach Den Haag und Paris redete Starmer einer besseren Zusammenarbeit mit der EU das Wort; dem Binnenmarkt oder der Zollunion aber will er auf absehbare Zeit nicht beitreten, was viele Aktivisten verärgert. Ausdrücklich distanzierte sich der Labour-Mann auch von der neuerdings in Irland aufkommenden Forderung nach einer baldigen Volksabstimmung über die mögliche Wiedervereinigung der grünen Insel: Das sei „völlig hypothetisch“.
De Maart
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