Mittwoch5. November 2025

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LibyenEine „apokalyptische“ Landschaft – und tausende Tote

Libyen / Eine „apokalyptische“ Landschaft – und tausende Tote
Freiwillige suchen in den Trümmern nach Überlebenden. Doch die Hoffnung schwindet.  Foto: AFP

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Knapp zwei Wochen nach der Flutkatastrophe in Libyen haben die Behörden den Tod von mehr als 3.800 Menschen offiziell bestätigt. UN-Behörden und Hilfsorganisationen versuchen, die vielen Betroffenen nach den Überschwemmungen in Ost-Libyen so gut wie möglich zu unterstützen. Aber die Probleme, vor denen sie stehen, sind gewaltig. Yann Fridez vom Internationalen Roten Kreuz berichtete von der verheerenden Lage vor Ort. 

Yann Fridez war gerade erst seit ein paar Stunden zurück in der Schweiz, als er am Donnerstagabend über Zoom vor einer Gruppe internationaler Journalisten von seinen Eindrücken der Flutkatastrophe in Libyen berichtete. Auch das Tageblatt wurde zum Pressebriefing eingeladen. Obwohl man ihm die Erschöpfung der vergangenen Tage etwas anmerkte, berichtete er meist kühl und fast schon klinisch von seinen Erfahrungen. Nur manchmal merkte man, wie sehr ihn die Folgen der Flutkatastrophe trafen. 

„Die verheerende Zerstörung, die ich in Libyen in der betroffenen Region gesehen habe, ist fast unmöglich in Worte zu fassen“, so Fridez. Vor zwei Wochen entlud Sturm „Daniel“ über dem Osten Libyens extreme Regenfälle und führte nach Dammbrüchen zu gewaltigen Überschwemmungen. Die 100.000-Einwohner-Stadt Darna wurde besonders schwer getroffen. „Es ist schwer vorstellbar, mit welcher Wucht das Wasser hier alles mitgerissen hat.“ Was zurückblieb, sei eine „apokalyptische“ Landschaft – und tausende Tote und Vermisste. 

Rund 4.000 Todesopfer wurden laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) bisher identifiziert, und diese Zahl dürfte noch deutlich steigen. Denn die bisherige Opferzahl berücksichtige nur die Toten, deren Beisetzung vom Gesundheitsministerium registriert worden sei. Tote, die bereits in den ersten Tagen nach der Katastrophe eilig beigesetzt worden seien, sind demnach nicht in der Aufzählung enthalten. Fridez konnte am Donnerstagabend keine genauen Opferzahlen angeben, sprach von mehr als 10.000 Vermissten. „Es gibt Menschen, die haben absolut alles verloren.“

„Ein Mann hat mir erzählt, er sei anderen zu Hilfe geeilt. Als dann die Dämme brachen, wurde seine eigene Familie von den Fluten erfasst. Er habe als einziger überlebt“, berichtete Fridez. Zwischen den Tragödien gebe es aber auch Hoffnungsschimmer. So seien etwa zwei Kleinkinder unter den Trümmern ihres Hauses gefunden worden, beide noch am Leben. 

Die Aufräumarbeiten würden zügig voranschreiten – insbesondere so dringend benötigte Straßen würden unter Hochdruck freigeräumt, damit die Hilfsorganisationen leichter zur betroffenen Region gelangen können. General Chalifa Haftar und seine sogenannte Libysche Nationalarmee (LNA) halten die strikte Kontrolle über den Osten samt Darna, bestätigte auch Fridez. Teils konnten Journalisten sowie Mitarbeiter von UN und auch Hilfsorganisationen nicht einreisen oder sich nur eingeschränkt bewegen. Die Telekommunikation wurde teils unterbrochen. Am Eingang zur Stadt Darna wurden Kontrollpunkte errichtet. Schon vor der Katastrophe bezeichnete die Organisation Reporter ohne Grenzen Libyen als ein „schwarzes Informations-Loch. Die meisten Medien und Reporter sind geflohen und haben das Land verlassen.“ Fridez hingegen scheint die Kontrolle nicht zu stören. „Die Autoritäten vor Ort haben unsere Hilfe von Anfang an begrüßt und arbeiten gut mit uns zusammen“, antwortete er auf die Frage einer Journalistin. Die strenge Kontrolle würde unkoordinierte Aktionen mit zu vielen Helfern verhindern. 

Wo die Hilfe aktuell hinfließt

Lebensmittel sind derzeit eines der wichtigsten Hilfsgüter. Brücken und Straßen sind ebenso zerstört wie viele Silos und Lagerhäuser, was die Versorgung über Märkte erschwert. Fertiggerichte, Trockenrationen und Nahrungszusätze sind jetzt entscheidend beim Versuch, etwa bei Babys und jungen Kindern eine Unterernährung zu verhindern. Mit Lieferungen von 96.000 Tonnen Lebensmitteln erreichte das Welternährungsprogramm (WFP) bisher etwa 16.000 Menschen – angepeilt sind 100.000 Menschen über drei Monate. In der Stadt Darna wurden 80 Prozent der Märkte zerstört. In der Küstenstadt Susa ist die Fischerei stark betroffen.

Noch dringlicher sei allerdings, so Fridez, die Wiederherstellung von Sanitär- und Wasserstrukturen. Zugang zu sauberem Wasser sei vielerorts unmöglich geworden. Das Kanalisationsnetz, vor allem innerhalb Darnas, ist stark beschädigt und oft ist nicht klar, wo Trinkwasser sich mit Abwasser vermischt hat. 150 Krankheitsfälle durch verunreinigtes Wasser wurden schon gemeldet – und die Zahl dürfte steigen. Verunreinigtes Wasser erhöht die Gefahr von Krankheiten wie Cholera, Typhus, Hepatitis A und Malaria. Bei der in Libyen bevorstehenden Regenzeit, die im Oktober beginnt und etwa drei Monate dauert, erhöht sich diese Gefahr weiter.

Zur politischen Situation wollte Fridez nichts sagen. Doch die politischen Grabenkämpfe dürften das Chaos verschlimmern. In dem gespaltenen Land geht das Ringen zwischen den zwei verfeindeten Regierungen weiter. Schon jetzt laufe ein „Kampf um die Kontrolle über Milliarden libysche Dinar für den Wiederaufbau“, schreibt Experte Wolfram Lacher von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) bei X, vormals Twitter. Die schon zuvor grassierende Korruption und Vernachlässigung der Bevölkerung, die mit zur Katastrophe beitrug, dürfte weitere Kreise ziehen. Experte Tarek Megerisi vom European Council on Foreign Relations spricht von einer „gierigen Führung“, die jetzt „erneut nach Profit giert und sich dabei vor jeglicher Verantwortung drückt“.