Tageblatt: Die russische Invasion, die Blockade der Schwarzmeer-Häfen und die Aufkündigung des Getreideabkommens durch Moskau quälen die Bauern. Nun kommt noch die Blockadehaltung Polens beim Getreideexport hinzu.
Julia Swiridenko: Unsere Bauern leiden sehr unter dem Krieg, denn der Exportanteil von Agrarprodukten lag bereits 2022 nur bei etwas über 50 Prozent. Nun wird unsere Hafen-Infrastruktur täglich angegriffen. Und dies beeinträchtigt die Exportmöglichkeiten massiv. Wenn die EU die Exportbeschränkungen für ukrainisches Getreide (gültig für Polen, Ungarn, Slowakei, Rumänien und Bulgarien, Anm. d. Red.) am Freitag (15.9.) weiterhin verlängern sollte, wäre der Schaden für die ukrainische Wirtschaft sehr groß. Vor allem bei den kleineren Getreidebauern fressen die massiv gestiegenen Transportkosten den Gewinn auf. Bereits im zweiten Jahr schafft die ukrainische Kornkammer Profit für Logistiker, Transporteure und Getreidehändler, nicht aber für die Bauern. Dies ist das größte Problem für unsere Landwirtschaft.
Hoffen Sie auf eine Einigung in letzter Minute?
Ich hoffe, dass Brüssel den Getreide-Exportboykott beenden wird. Wenn dies nicht geschieht, klagen wir vor einem Schiedsgericht, so wie wir das unseren polnischen und europäischen Kollegen bereits angedroht haben. Wir tun dies ungern, aber wenn es nicht anders geht, beschreiten wir diesen Weg. Und zwar gegen jene EU-Mitglieder, die diesen Getreide-Exportboykott für die Ukraine aufrechterhalten werden.
Sehen Sie Fortschritte in Polen – das sich ja außenpolitisch gerne dezidiert pro-ukrainisch gibt?
Den größten Fortschritt haben wir in Rumänien. Die Rumänen bauen ihre Transportkapazitäten massiv aus. Im November starten wir damit, mehr Getreide via Rumänien zu exportieren. Auch Polen baut die Kapazitäten aus, wobei noch nicht das Vor-Boykott-Niveau von vor April erreicht wird. Dabei muss gesagt werden, dass der Boykott ukrainischen Getreides die Probleme der polnischen Getreideproduzenten nicht gelöst hat, was den Schluss nahelegt, dass nicht das ukrainische Getreide an Polens Problemen schuld ist. Warschaus Boykott ist also einzig politischer Natur.
Rückkehrer und Wiederaufbau
EU-Mitglieder versuchen gerade, ukrainische Flüchtlinge für den eigenen Arbeitsmarkt zurückzuhalten. Wie stehen die Möglichkeiten der Ukraine, ins Ausland Geflüchtete für den Wiederaufbau einzusetzen?
Wir haben Umfragen gemacht und sehen, dass die Mehrheit der (rund zehn Millionen ins Ausland geflüchteten, Anm. d. Red.) Ukrainer zurückkehren möchte. Die Umfragen zeigen aber auch, dass für sie die Sicherheitslage das Hauptproblem darstellt. Danach kommt die Wohn- und Arbeitsplatzsituation. Das Wirtschaftsministerium rechnet damit, dass etwa 600.000 Geflüchtete im Jahr 2024 zurückkehren werden. Doch alles hängt davon ab, wie lange der Krieg noch dauert.
Wie kann man mit so vielen Unwägbarkeiten überhaupt planen?
Für ein rasches Ende des Krieges ist die Armee zuständig. Wir von der Regierung versuchen, die Beseitigung der russischen Minen in den befreiten Gebieten sicherzustellen. Die Minenräumung ist ein großes Problem, das uns die nächsten paar Jahre beschäftigen wird. Wir sind heute das am meisten verminte Gebiet der Welt. Doch die Erfahrung zeigt, sobald Gebiete von der russischen Besatzung befreit sind, kehren die Leute sofort zurück. So war es auch bei mir.
Dennoch sind ja auch sehr viele Wohnräume zerstört.
Dafür haben wir ein großes Hypothekar-Programm in die Wege geleitet. Einerseits sprechen wir von Geldern für jene Bewohner, die ihre Häuser oder Wohnungen selbst wieder aufbauen wollen. Auf der anderen Seite wollen wir auch Neubauten finanzieren. Wir haben das Antragssystem vollständig digitalisiert, um aufwändige Behördengänge auszuschließen. Bisher haben sich dafür 40.000 Antragsteller gemeldet.
Produktionsumzüge in die Westukraine
Eine Möglichkeit, mehr Zeit für die Minenräumung zu gewinnen, wäre eine Verlegung von Produktionskapazitäten und damit Arbeitsplätzen von der häufig von Russland angegriffene Ost- in die Westukraine.
Wir haben bereits ein solches Programm am Laufen. Bisher sind rund 840 Firmen ganz oder teilweise vom Norden und Osten in den Westen des Landes umgezogen. Wir helfen dabei, neue Firmengebäude, aber auch Wohnungen für die Arbeiterfamilien zu finden.
Angeblich planen auch EU-Waffenfirmen die Verlegung von Produktionskapazitäten in die Ukraine.
Das ist so. Leider ist die Ukraine heute ein großes Schlachtfeld und damit auch ein großes Waffentest-Gebiet. Selbst in Kriegszeiten begegnen wir einem großen Investitionsinteresse der Waffenindustrie.
Das Interview wurde am Rande der von der Pintschuk-Stiftung in Kiew organisierten jährlichen „Yalta European Strategy“ (YES)-Konferenz geführt.
Zur Person
Julia Swiridenko gehört zu jenen neuen, parteipolitisch unbelasteten neuen und jungen Kräften, die Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj in seine Regierungsmannschaft berufen hat. Die im Dezember in Tschernigiw 1985 geborene promovierte Ökonomin wurde im November 2021 Wirtschaftsministerin. Zugleich wurde sie Vize-Regierungschefin. Sie ist parteilos und hatte vorher in der Privatwirtschaft und der Gebietsverwaltung ihrer nordukrainischen Heimatregion Tschernigiw gearbeitet. Nach dem Studium lebte sie kurze Zeit in China. Sie ist verheiratet und hat eine Tochter.
De Maart
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