Die Trauer über die 17 Todesopfer ließ nach den Amokläufen in Serbien selbst die sonst so lautstarken Demonstranten verstummen. Ungewohnt still, ohne die üblichen Trillerpfeifen und nur mit wenigen Transparenten zogen Zehntausende Menschen zu Wochenbeginn in Belgrad, Novi Sad, Kragujevac und anderen Großstädten gegen die zunehmende Gewalt im Balkanstaat über die Straßen. Erst vor dem Regierungssitz in Belgrad skandierten aufgebrachte Demonstranten „Abtritt, Abtritt!“: „Vucic, hau ab!“
Von den Sprechchören zeigte sich der Staats- und Parteichef Aleksandar Vucic genauso wenig beeindruckt wie von den von einer Lehrerin verlesenen Forderungen nach einem Lizenzentzug für gewaltverherrlichende Schmuddel-Sender im Dunstkreis der regierenden SNS oder der Ablösung des untätigen Rundfunkrats. An der Großdemonstration „Serbien gegen die Gewalt“ hätten keineswegs wie von den Organisatoren behauptet 50.000, sondern „genau gezählt 9.000 Menschen“ teilgenommen, höhnte der Präsident hernach bei seinem Gastauftritt beim regierungsnahen „TV Happy“.
Doch der wachsende Unmut über eine Gesellschaft, in der Gewalt, Kriminelle und Kriegsverbrecher schon seit Jahrzehnten von Medien und Würdenträgern systematisch verharmlost und verherrlicht werden, bringt auch Serbiens selbst- und machtverliebten Dominator in Erklärungsnöte – und in Bedrängnis. Nicht nur der Erziehungsminister Branko Ruzic, sondern die „gesamte Regierung“ hätte nach den Amokläufen von Belgrad und Mladenovac zurücktreten müssen, räumt SNS-Vorstandsmitglied Dragan Sormaz ein.
Noch deutlicher wird der Kommentator der regierungskritischen Zeitung Nova. Mit seinen endlosen TV-Tiraden gegen missliebige Oppositionelle und Journalisten pflege Vucic selbst „Gewalt und Hass“ zu säen. Der SNS-Chef sei die „Kontinuität der Gewalt und des politischen Übels“, dessen Grundlagen vor 30 Jahren der Ex-Autokrat Slobodan Milosevic und Vucic-Mentor Vojislav Seselj gelegt hätten: „Nimm endlich Deine paramedialen Köter an die Leine, die seit Jahren die Öffentlichkeit vergiften, belügen, einschüchtern und manipulieren.“
Korruption und Einschüchterung
Noch scheint ein Volksaufstand gegen den allgewaltigen Staatschef angesichts der zersplitterten und zerstrittenen Opposition sowie der resignierten Stimmung im fassungslosen Land kaum in Sicht. Doch nicht nur die Tatsache, dass weder Vucic noch seine Regierungschefin Ana Brnabic oder der Belgrader SNS-Bürgermeister Aleksandar Sapic den Weg zu der nur wenige hundert Meter von ihren Büros entfernten Vladislav-Ribnikar-Schule fanden, um der Todesopfer zu gedenken, hat viele Serben befremdet.
Ob Machthaber, die die Dienste krimineller Hooliganclans zur Einschüchterung von Wählern und Demonstranten nutzen; ob Staatsanwälte, die von lästigen Korruptionsermittlungen abgezogen werden, sobald sie ihrer Arbeit gewissenhaft nachgehen; ob Politiker, die sich für korruptionsanrüchige Bauprojekte über alle Gesetze hinwegsetzen: Auch das späte Eingeständnis von Vucic, dass er 2016 selbst den illegalen Abriss einer Straßenzeile zu Gunsten eines von ihm forcierten Nobelviertels angeordnet habe, verstärkt den Eindruck einer willkürlichen und völlig aus dem Ruder gelaufenen Günstlingsherrschaft.
Die Opposition hat für das Wochenende neue Massenproteste angekündigt. Der wachsende Verdruss, der ihm und seiner Partei nach den Amokläufen entgegenschlägt, ist Strippenzieher Vucic derweil nicht entgangen. Bis „Ende Mai“ sei mit „wichtigen Schritten“ zu rechnen, kündigt er an – und schließt eine Regierungsumbildung, vorgezogene Parlamentswahlen im Herbst oder seinen eigenen, allerdings von Analysten als eher unwahrscheinlich erachteten Rücktritt nicht mehr aus.
„Die Tragödie beschleunigt den Gang in die Wahllokale“, orakelt die Zeitung Danas. Doch ob und welche Wahlen der Präsident ausschreibt, dürfte in erster Linie von der Entwicklung des Ratings seiner SNS abhängen.
De Maart
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