Donnerstag13. November 2025

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GroßbritannienBitterer Arbeitskampf im NHS: Krankenhausärzte wollen 35 Prozent mehr

Großbritannien / Bitterer Arbeitskampf im NHS: Krankenhausärzte wollen 35 Prozent mehr
Streikende Assistenzärzte des NHS vor dem Leicester Royal Infirmary Foto: Jacob King/PA Wire/dpa

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Neuer Höhepunkt der Streikwelle in Großbritannien: Am Dienstag haben rund 40.000 Krankenhausärzte auf der Insel einen viertägigen Ausstand begonnen.

Gesundheitsminister Steven Barclay äußerte sich „extrem enttäuscht“; die Forderung der Gewerkschaft BMA für eine Gehaltserhöhung von 35 Prozent sei unvernünftig und lasse keine Verhandlungen zu. Man habe „keine Vorbedingungen gestellt“, erwiderte Emma Runswick von der BMA in Medieninterviews: „Der Minister sollte an den Verhandlungstisch zurückkehren.“

Das Nationale Gesundheitssystem NHS wird seit Monaten von Streiks erschüttert. Im Winter betraf dies mehrfach Rettungssanitäter und Pflegepersonal für jeweils zwei Tage; die größte Gewerkschaft RCN rückte schließlich von der ursprünglichen Forderung einer Gehaltserhöhung von 10,6 Prozent ab. Derzeit stimmen die Mitglieder über das Regierungsangebot einer vierstelligen Einmalzahlung sowie fünf Prozent mehr Lohn und Gehalt ab.

Beim dreitägigen Streik der Krankenhausärzte im vergangenen Monat mussten rund 175.000 Eingriffe verschoben werden. Auf der Insel werden fast alle fachärztlichen Behandlungen und kleinen Operationen im örtlichen Hospital vorgenommen. Diesmal schätzen Experten wie Matthew Taylor vom Verband der Krankenhausträger die Zahl auf 350.000, zumal wegen der Osterferien viele ältere Fachärzte, sogenannte consultants, Ferien machen.

Taylor hat in den vergangenen Tagen immer wieder gewarnt: die Briten vor „riskanten Handlungsweisen“, die eine akute Behandlung im Spital erst nötig machen; Politik und interessierte Öffentlichkeit vor den „katastrophalen Folgen“ für die Pflege derzeitiger Krankenhaus-Patienten und der Behandlung all jener Millionen von Bürgern, die teilweise seit vielen Monaten auf NHS-Wartelisten schmoren. Die Liste reicht von Terminen beim Facharzt zur genauen Diagnose einer seltenen Lungenkrankheit bis zu Routine-Eingriffen wie dem Einsetzen künstlicher Gelenke oder der Zertrümmerung von Nierensteinen.

Rückgang von Realeinkommen

Die BMA-Gewerkschaft spricht von einer „Wiederherstellung“ des realen Lohnniveaus; dieses ist angeblich in den vergangenen fünfzehn Jahren um 25 Prozent gesunken, im vergangenen Jahr kam die zweistellige Inflationsrate hinzu. Tatsächlich erleben Berufstätige in vielen Branchen seit Jahren einen Rückgang ihrer realen Einkommen. Neben der schwierigen Wirtschaftslage und der weltweiten Pandemie-Rezession 2020 hat dazu auch der EU-Austritt seinen Beitrag geleistet.

Zum Hintergrund des bitteren Streits der Krankenhausärzte mit der konservativen Regierung gehört ein verlorengegangener Arbeitskampf vor sieben Jahren. Dem damaligen Gesundheitsminister Jeremy Hunt gelang es mit Verweis auf die Sicherheit der Patienten, die Sechs-Tage-Woche mit einer Kernzeit zwischen 7 Uhr morgens und 22 Uhr abends einzuführen, in der keine Überstunden-Zahlungen fällig werden. Ob der damit verbundene Einkommensverlust durch höhere Grundgehälter ausgeglichen wurde, gehört seither zu den umstrittenen Themen.

In jedem Fall operiert die Gewerkschaft mit dubiosen Zahlen. Frisch qualifizierte Mediziner würden mit Stundenlöhnen von umgerechnet 15,95 Euro abgespeist, heißt es auf BMA-Plakaten. Tatsächlich handelt es sich dabei um das Grundgehalt für Ärztinnen im ersten klinischen Jahr (33.462 Euro), durchschnittlich 30 Prozent mehr kommt durch Zulagen, beispielsweise für Nachtdienste, hinzu. Zudem fallen weniger als zehn Prozent aller Medizinerinnen unterhalb des Facharzt-Abschlusses (consultant) in diese Kategorie.

Bettennot und Personalknappheit

Kurz vor Ende der fachärztlichen Qualifikation liegt die Bezahlung im Durchschnitt bei 87.670 Euro. Hinzu kommen gegenüber dem Privatsektor ausgesprochen großzügige Pensionszahlungen.

Die Streiks haben die existenzielle Krise des NHS verstärkt. Dem Berufsverband der Notfallmediziner zufolge sterben jährlich bis zu 25.000 Patienten vor der Zeit, weil ihnen nicht rechtzeitig ärztliche Hilfe zuteilwird. Bei vielen Menschen ist dies selbstbestimmt: Sie beherzigen bis heute die düsteren Warnungen vor einem Kollaps des Systems, mit dem die Regierung während der Corona-Pandemie die Bevölkerung erschreckte.

Wer ins Krankenhaus eingewiesen wird, ist dort mit Bettennot und Personalknappheit konfrontiert. In Westeuropa hat laut der OECD-Statistik für 2022 nur Schweden weniger Spitalbetten (2,43 pro 1.000 Bewohner) als das Vereinigte Königreich. Zudem sind wegen der immer älter werdenden Bevölkerung viele Plätze von hochbetagten Patienten belegt, deren Entlassung am Mangel von Heimplätzen scheitert.

Allerorten fehlt das Personal. So müssen frisch aus der Uni kommende Jung-Mediziner Verantwortung übernehmen, die weit über ihre Fähigkeiten hinausgeht. Die Folge: Zum einen eine wachsende Zahl psychisch überforderter Ärzte, zum anderen die rapide Abwanderung in andere englischsprachige Länder wie Kanada, Australien oder ins Nachbarland Irland.