Samstag15. November 2025

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Parlamentswahl in EstlandGlänzender Erfolg für Kaja Kallas’ Reformpartei – Rechtsextreme verlieren Sitze

Parlamentswahl in Estland / Glänzender Erfolg für Kaja Kallas’ Reformpartei – Rechtsextreme verlieren Sitze
Sollte Kaja Kallas wieder Regierungschefin werden, müsste sie ihr Abgeordnetenmandat abgeben Foto: AFP/Raigo Pajula

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In Narva weht ein eisiger Wind, doch in Tallinn hat Kaja Kallas gut lachen. Umfragen hatten ihrer Reformpartei ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der rechtsextremen EKRE-Partei vorausgesagt. Doch kurz vor Mitternacht steht fest, dass die Internetwähler kein Herz für die Rechtsradikalen hatten.

Kallas Reformpartei schneidet damit sogar besser ab als vor vier Jahren und erringt mit 31 Prozent der Stimmen 37 von 101 Sitzen. Die „Konservative Volkspartei Estlands“ (EKRE), der Umfragen zufolge bis zu 22 Prozent vorausgesagt wurden, verliert dagegen mit 16 Prozent der Stimmen zwei Sitze. 

Damit ist der EKRE-Traum von einer Einstellung der Ukraine-Hilfe zugunsten höherer Sozialausgaben für Esten gemäß dem Wahlmotto „Rettet Estland!“ ausgeträumt. „Die Wähler erwarten, dass die Reformpartei die Führung in der neuen Regierung übernimmt. So viel steht fest“, sagte Premierministerin Kaja Kallas in der Wahlnacht. Gleichzeitig ließ sie durchblicken, dass ihre Reformpartei mehr Ministerposten für sich beanspruchen will als bisher. 

Die 45-jährige Kallas, die weitaus beliebteste Politikerin in Estland, hatte in ihrem Wahlkreis mit gut 31.000 Stimmen einen neuen Rekord seit der Unabhängigkeit von 1991 aufgestellt. Sollte sie indes wieder Regierungschefin werden, müsste sie laut estnischer Verfassung ihr Abgeordnetenmandat abgeben. 

Rein rechnerisch wäre für ihre Reformpartei nun eine Koalition mit der wirtschaftsliberalen Newcomer-Partei „E200“ möglich, die auf Anhieb 14 Sitze eroberte. Wahrscheinlicher ist jedoch wieder eine Drei-Parteien-Koalition. Möglich wäre eine Neuauflage der bisherigen Koalition zwischen Kallas’ Reformpartei, den Sozialdemokraten (SDE, neun Prozent, minus ein Sitz) und der liberal-konservativen Vaterlandsunion (Isamaa, acht Prozent, minus vier Sitze). Kallas ließ jedoch auch am Montag offen, mit wem sie in den nächsten vier Jahren regieren will. „Wir sind offen für Gespräche mit allen Seiten“, sagte sie im estnischen Fernsehen, wobei bereits vor der Wahl klar war, dass die rechtsextreme EKRE von dem Angebot ausgeschlossen ist. 

Beleidigte Rechtsextreme

Als schlechter Verlierer erwies sich in der Nacht zum Montag die EKRE. „Wir werden das Resultat der Internetstimmen anfechten“, kündigte der rechte Parteichef Mart Helme an. Noch am Sonntagabend hatte er sich als künftiger estnischer Regierungschef gewähnt. Die EKRE schien fünf Prozent mehr Stimmen zu haben als Kallas’ Reformpartei. Doch dann trafen die Resultate des E-Votings ein und Reform und EKRE tauschten die Plätze. Nun zeigte sich, dass die Reformpartei, Internet und Papier-Wahlzettel zusammengerechnet, fast doppelt so viele Stimmen erhalten hat wie die EKRE, die vor allem weniger gut Gebildete in den ländlichen Regionen Südestlands anspricht. 

Die Wahl in Kürze

Bei der Parlamentswahl in Estland ist die pro-europäische Reformpartei von Ministerpräsidentin Kaja Kallas stärkste Kraft geworden. Nach Auszählung von 98 Prozent der Stimmen erreichte Kallas‘ liberale Fraktion 31,5 Prozent der Stimmen, die rechtsextreme EKRE-Partei kam mit 16,1 Prozent auf Platz zwei. Das starke Abschneiden der EKRE spiegelt die Besorgnis einiger Wähler über die steigenden Lebenshaltungskosten in dem Land mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern im Zuge des russischen Ukraine-Kriegs wider.

Erstmals in Estlands Geschichte gaben mit 51 Prozent mehr Wähler ihre Stimmen elektronisch ab. „Ich traue dem E-Voting nicht. Es zerstört jedermanns Leben“, sagte der rechtsextreme Helme in der Wahlnacht. „Wir tun vor Gericht alles, was wir können, damit dieses Resultat nicht anerkannt wird“, drohte der erklärte Donald-Trump-Fan, der immer noch überzeugt ist, dass sein Idol 2020 um den Wahlsieg gegen Joe Biden betrogen worden sei. 

Zu den großen Verlierern der Parlamentswahlen vom Sonntag gehört neben der EKRE auch die linke Zentrumspartei (KESK), die sich traditionell als Fürsprecherin der Russen und russischsprachigen Bevölkerung Estlands versteht. Rund 25 Prozent der 1,3 Millionen Einwohner Estlands sind Russen, etwa 2,5 Prozent Ukrainer und etwa 1,5 Prozent Belorussen. Die meisten von ihnen sind noch zu Sowjetzeiten durchaus nicht immer freiwillig nach Estland gezogen. Bei den Parlamentswahlen abstimmen können nur jene Russen, die einen estnischen Pass haben, was ein schwieriges Estnisch-Examen voraussetzt. 

„Ich kämpfe dafür, dass alle Bürger, die keine russischen Pässe angenommen und somit ihre Loyalität zu Estland bekundet haben, an den Parlamentswahlen teilnehmen können“, erklärte Yana Toom am Wahlsonntag in der zu 97 Prozent russischsprachigen Stadt Narva im persönlichen Gespräch mit dem Tageblatt. Vor dem Wahllokal Nummer vier, eingerichtet im Foyer des Nachtclubs „Geneva“ (Genf), verteilt sie Sahnebonbons und Kugelschreiber für KESK, für die sie in Brüssel im EU-Parlament sitzt. „Die Regierung änderte das Gesetz so, dass selbst am Wahlsonntag Wahlkampf erlaubt ist, deshalb muss ich nun hier stehen“, klagt Toom zuerst auf Russisch, dann in bestem Englisch. 

In Narva direkt an der Grenze zu Russland fuhr Yana Toom in ihrer dicken Windjacke und der Partei-grünen Brille ein Spitzenresultat ein, wie sich am Montag zeigt. Doch KESK hat im ganzen ostestnischen Wahlbezirk Ida-Virumaa zwei Sitze verloren. Wegen der landesweit niedrigsten Wahlbeteiligung konnte dazu nur die Hälfte der für diesen Wahlbezirk vorgesehenen sechs Sitze schon am Montag verteilt werden. Die brachliegenden Sitze werden nun nach einem komplizierten Schlüssel unter den Parteien verteilt. 

Die Region Ida-Virumaa, in der Narva liegt, dürfte laut Auskunft von Stadtpräsidentin Katri Raik einen Sitz verlieren. „Das Wahlresultat bereitet mir aber vor allem Sorgen, weil zwei offen anti-ukrainische Kandidaten je einen Sitz nur um ein Haar verpasst haben“, sagt Raik im persönlichen Gespräch mit dem Tageblatt im Rathaus von Narva direkt am Grenzübergang „Narva-1“ zu Russland. „Der Staat muss sich endlich um diese Region kümmern“, warnt die estnischsprachige Bürgermeisterin.   

Von 101 Abgeordneten des neuen Riigikogu tragen nur noch sieben russische Familiennamen – beim Bevölkerungsanteil von fast 30 Prozent. In den mehrheitlich estnischsprachigen Gebieten lag die Wahlbeteiligung dagegen rekordverdächtig hoch. Im Landesdurchschnitt wählten 63,5 Prozent der Esten.