Samstag15. November 2025

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70. TodestagStalins Geist in Putins Russland

70. Todestag / Stalins Geist in Putins Russland
Anhänger der kommunistischen Partei halten ein Porträt von Stalin während der nationalen Feierlichkeiten zum „Tag des Vaterlandsverteidigers“ Foto: Alexander Zemlianichenko/AP/dpa

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Die Aufarbeitung des stalinistischen Regimes ist wegen der repressiven Gesetze im System von Wladimir Putin nahezu unmöglich. Mehr noch: Viele Mechanismen des Stalinismus werden in diesem gefördert.

Sonne, Spielplatz, Restaurant – das „Dschami“-Hotel in Dagestan direkt am Kaspischen Meer im Süden Russlands wirbt mit hübschen Bildern vom blauen Meerwasser und einem Sandstrand um seine Gäste. Nicht weit von hier soll ein Militärkrankenhaus entstehen, die Bagger waren vor einigen Tagen angerollt. Was sie aus dem Sand hervorholten, war ein Blick in die dunkle sowjetische Vergangenheit des Landes: 18 Schädel mit Löchern, die nach Schüssen in den Hinterkopf aussehen, aufgereihte menschliche Überreste. Ein Massengrab. „Mutmaßlich aus der Zeit der stalinistischen Repressionen der 1930er Jahre“, teilte das russische Innenministerium schließlich mit, nachdem Bilder des Fundes auf Telegram-Kanälen die Runde gemacht hatten.

Mit einem Mal war ein Thema in den Nachrichten, vor dem das heutige Regime und die Mehrheit der Menschen in Russland oft die Augen verschließen: der Staatsterror, dem Millionen von Menschen gefallen waren. Da die Mechanismen staatlich ausgeübter Gewalt auch heute wieder stark sind im Land, verschwand die Nachricht von Massenerschießungen am dagestanischen Strand auch schnell wieder. Die staatlichen Medien erwähnten das Massengrab nur kurz, um damit auf die Arbeit von Ermittlungsbehörden einzugehen, die Leichenfunde aus den vergangenen Jahren untersuchen. Über die Morde von damals zu reden, ist auch heute noch gefährlich. Die Aufarbeitung des stalinistischen Regimes ist wegen der repressiven Gesetze im System Putin nahezu unmöglich.

Menschenvernichtungsapparat

Am 5. März jährt sich das Todesdatum des sowjetischen Diktators Josef Stalin zum 70. Mal. Sein Ableben war eine Zäsur, weil es die 40-jährige Gewaltspirale in der Sowjetunion vorübergehend aussetzte. Es begann eine Revision vieler Beschlüsse, eine Art „Entstalinisierung von oben“. Stalins Weggefährte erkannten, wozu der Personenkult um den Generalissimus führte.

Der sowjetische Schlächter hatte wichtige Fragen im In- wie im Ausland fast schon auf pathologische Weise durch persönliche Entscheidungen geregelt. Der Partei und dem Land hätten diese „großen Schaden“ zugefügt, sagte Georgi Malenkow, der Gefolgsmann des Diktators und späterer Regierungschef der Sowjetunion, nach Stalins Tod. Zu dessen Lebzeiten wurden solche Worte nicht geäußert. Die ewige Angst vor Säuberungen hatte auch seine direkten Untergebenen nie verlassen. Selbst als Stalin nach einem Trinkgelage mit den Parteifreunden auf seiner Datscha bei Moskau in der Nacht auf den 1. März 1953 einen Schlaganfall erlitt und am nächsten Morgen nicht auftauchte, traute sich niemand in sein Zimmer, wo er im Pyjama am Boden lag und sich nicht rührte.

Kritiker seiner ‚gerechten Sache’ nennt Putin „Abschaum“, den es zu vernichten gelte

Bis heute gibt es Menschen in Moskau, die sich an die Totenprozession quer durch die Stadt erinnern. Wie die Menschen weinten, vor Freude oder Entsetzen, wie die Menschen regelrecht zerdrückt wurden. Manche der durch Stalins Menschenvernichtungsapparat Geschundenen sind erst in den 1990er Jahren wieder rehabilitiert worden, viele erst nach ihrem Tod. Die Familien der Opfer erfuhren das meist nach Eigenrecherchen, oft mithilfe der Bürgerrechtsorganisation Memorial.

Doch Russlands Justizbehörden haben ihr im Dezember 2021 praktisch das Existenzrecht abgesprochen, seitdem wird es immer schwerer, die Erinnerung an die Verbrechen des Stalinismus zu pflegen. Wie kaum jemand anderes sammelten die Unerschrockenen von Memorial Informationen über Gulag und Terror und verwiesen auch immer wieder auf politische Verbrechen der Jetztzeit. Vertreter regionaler Abteilungen von Memorial, die noch nicht geschlossen sind, werden von der Polizei beobachtet, sie werden abgehört, manchmal auch von radikalen Kriegsbefürwortern körperlich bedrängt.

Kinder werden kriminalisiert

Viele Mechanismen des Stalinismus werden im System Putin gefördert. Väter denunzieren ihre Söhne, die eine Nachbarin meldet eine andere an die Behörden, der eine Arbeitskollege schwärzt einen anderen an. Schülern wird eingebläut, genauer hinzusehen und „Fremdes“ sofort zu melden. Lehrer rufen die Polizei und die Jugendinspektion, wenn ihre Schützlinge die offizielle Linie auch nur ein wenig infrage stellen. Fälle wie die der zehnjährigen Warja aus einem Vorort von Moskau und der Sechstklässlerin Mascha aus der Region Tula zeigen, wie selbst Kinder kriminalisiert werden und dass Schulen längst keinen Schutzraum mehr bieten. Warja hatte im Klassenchat ein Profilbild in den ukrainischen Farben Blau-Gelb benutzt, Mascha im Kunstunterricht ein Bild mit der russischen und der ukrainischen Fahne gemalt und darunter „Nein zum Krieg“ geschrieben.

Direktorinnen beider Einrichtungen ließen die Mädchen von mehreren Polizisten zum Verhör abtransportieren. Es gab Hausdurchsuchungen bei den Familien der Schülerinnen. Warjas alleinerziehende Mutter muss seitdem einen „Präventionskurs“ beim Jugendamt absolvieren, wo ihr erklärt wird, wie sie ihre Kinder „moralisch richtig“ erziehen solle. Dem alleinerziehenden Vater von Mascha droht eine mehrjährige Haftstrafe, weil er mit seinen Posts in den sozialen Netzwerken die russische Armee „diskreditiert“ haben soll. Mascha befindet sich derzeit in einem Heim, weil ihr Vater von den Behörden festgehalten wird. Solche Beispiele schrecken ab, zumal die Angst – wie vererbt aus den Sowjetzeiten – tief in den Menschen sitzt.

Stalin hat heute trotz seiner unnachgiebigen Brutalität das Image eines „effektiven Managers“, eines hartgesottenen Führers, der dem Land den Sieg über die Nationalsozialisten einbrachte. In Wolgograd, dem früheren Stalingrad, wurde erst kürzlich eine Büste für ihn aufgestellt. Da Putin seine „Spezialoperation“ in der Ukraine als Fortführung des sowjetischen Kampfes im Zweiten Weltkrieg betrachtet, ist Stalin eine Art Wegweiser für viele im Moskauer Regime. Kritiker seiner „gerechten Sache“ nennt Putin „Abschaum“, den es zu vernichten gelte. So mancher Regionalchef macht die Leiter staatlicher Unternehmen bei einer Sitzung auch schon einmal mit den Worten nieder: „Unter Josef Stalin in den 30ern hätte man euch samt Familien und anderen Verwandten längst erschossen. Und man hätte richtig gehandelt.“

Ukrainische „Terroristen“ in Russland?

Das russische Vorwurf eines Eindringens von ukrainischen „Saboteuren“ in Russland hat die Konfrontation zwischen Kiew und Moskau am Donnerstag noch einmal zusätzlich verschärft. Russische Behörden und der Geheimdienst FSB berichteten von einer Gruppe von bewaffneten ukrainischen „Saboteuren“, die in die Region Briansk an der Grenze zur Ukraine eingedrungen sei. Der Kreml sprach von einem „Terrorangriff“, Russlands Präsident Wladimir Putin von „Terroristen“. Die Ukraine wies die Vorwürfe als „absichtliche Provokation“ Moskaus zurück.
Putin sagte, ukrainische „Terroristen“ und „Neonazis“ hätten auf Zivilisten in der Region Briansk geschossen. Die Ukrainer hätten einen „Terroranschlag verübt, sind in unser Grenzgebiet eingedrungen und haben das Feuer auf Zivilisten eröffnet“, sagte Putin in einer im Fernsehen übertragenen Ansprache. Laut Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sagte Putin eine geplante Reise in den Kaukasus ab. Er erhalte „ständig Berichte“ über die Entwicklung der Lage.
Der Inlandsgeheimdienst FSB erklärte nach Angaben von russischen Nachrichtenagenturen: „Der FSB und Kräfte des Verteidigungsministeriums ergreifen Maßnahmen, um die bewaffneten ukrainischen Nationalisten zu vernichten, die die Grenze unseres Staates im Distrikt Klimowsk in der Region Briansk verletzt haben.“ Später teilte der FSB demnach mit, die Lage sei „unter Kontrolle“. Es seien „große Mengen Sprengstoff“ bei dem Einsatz gefunden worden.
Die Ukraine wies den russischen Vorwurf des Eindringens von ukrainischen „Saboteuren“ auf russisches Territorium als „absichtliche Provokation“ aus Moskau zurück. Der ukrainische Präsidentenberater Michailo Podoljak erklärte im Online-Dienst Twitter, „die Geschichte über eine Sabotage-Gruppe in Russland ist eine klassische absichtliche Provokation“. Russland „will seinen Leuten Angst machen, um seinen Angriff auf ein anderes Land und die wachsende Armut nach einem Jahr Krieg zu rechtfertigen“. (AFP)