Samstag15. November 2025

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EstlandStolpert die Putin-Kritikerin Kallas über ihr Ukraine-Engagement?

Estland / Stolpert die Putin-Kritikerin Kallas über ihr Ukraine-Engagement?
Kaja Kallas, Ministerpräsidentin Estlands, gibt während der Parlamentswahlen ihre Stimme ab – auf einem Laptop über ein Internet-Wahlsystem. Die Wahl endet am Sonntag. Bei der letzten Wahl setzten mehr als ein Viertel aller Wahlberechtigten ihre Kreuzchen online.  Foto: Pavel Golovkin/AP

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Die estnische Regierungschefin Katja Kallas ist im Rest Europas ein Polit-Star. Aber am Sonntag wird in Estland gewählt. Und die konservative bis rechtsextreme Opposition versucht, vor allem Kallas Engagement für die Ukraine und ukrainische Flüchtlinge auszunutzen. 

Kristian und Stiine sind ein ungleiches Paar. Der groß gewachsene Werkstudent mit der grünen Palästinenserschärpe und die zierliche Rentnerin in der dünnen Windjacke machen vor der Shopping-Mall „Kristiine“ Wahlkampf für EKRE. „Sämtliche Schulen müssen sofort auf Estnisch unterrichten, der estnische Wald darf nicht zu Export-Papier verarbeitet werden“, wirbt Stiine. Kristian wettert gegen die Globalisierung und das Diktat Brüssels, sowohl in der EU wie der NATO. Das Interesse der Einkaufszentrums-Besucher ist gering, doch Kristian redet sich schnell in Fahrt. An seinem Hals baumelt ein Runen-Abzeichen aus Leder.

Die beiden werben für Kandidat Nummer 536, Urmas Espenberg, der als Mitglied der rechtsextremen „Estnischen Konservativen Volkspartei“ (EKRE) bei den Parlamentswahlen an diesem Sonntag „Estland retten“ will. Laut Umfragen könnte EKRE zusammen mit der ihr politisch in vielen Punkten nahestehenden Zentrumspartei (KESK) die sozial-liberale Regierung unter der europäischen Star-Regierungschefin Kaja Kallas (Reform Partei) zu Fall bringen. Das kleine Estland mit seinem nur 1,3 Millionen Einwohnern hat unter Kallas wie kein zweites EU-Mitglied der Ukraine geholfen. Kallas und ihr Team sowie ihre Drei-Parteien-Koalition (aus der liberalen Reform-Partei, den Sozialdemokraten SDE und der konservativen Vaterlandsunion „Isamaa“) werden nicht müde, für mehr Waffenhilfe für die Ukraine zu werben. Dies alleine hat den kleinsten der drei Balten-Staaten zu einem Dorn in Putins Augen gemacht.

Wichtige Wahlen für Europa

Deshalb sind diese Wahlen wichtig für Europa, ja für die ganze pro-ukrainische Koalition. Wie selbstverständlich weht in Tallinn vor jedem Regierungsgebäude neben der estnischen und der EU-Flagge auch eine ukrainische Flagge. „Wenn Russland in der Ukraine Erfolg hat, sieht es, dass sich Aggression lohnt“, warnt Kaja Kallas in einem Wahlinterview mit der russischsprachigen estnischen Zeitung Estonski Express. „Die Ukraine kämpft auch für uns; solange Russland in der Ukraine Krieg führt ist, fällt es nicht über andere Länder her“, sagt Kallas und meint damit vor allem Estland, dessen Abspaltung von der Sowjetunion im Jahr 1991 seit Putins Machtantritt im Jahr 2000 de facto nicht mehr anerkannt wird.

Die 45-jährige Juristin und ehemalige EU-Parlamentsabgeordnete Kaja Kallas hat sich im Kampf um die Ukraine besonders verdient gemacht. Estland hatte schon im Januar 2022, einen Monat vor der russischen Invasion in die Ukraine, deutsche Haubitzen aus eigenen Armeebeständen nach Kiew zu liefern versucht. Als Berlin mit der Ausfuhrbewilligung zögerte, sattelte die Regierung Kallas kurzerhand auf amerikanische Javelin-Panzerabwehrraketen um. Kallas selbst war erst gerade ein Jahr im Amt. Im Januar 2021 war sie als erste Frau in Estland Premierministerin geworden, damals noch in der sogenannten „Großen Koalition“ mit der Zentrumspartei (KESK). Inzwischen hat Estland gemessen an der Bevölkerung am meisten Waffen in die Ukraine geliefert. Gleichzeitig ist Kallas selbst noch nie nach Kiew gereist. „Ich habe einen sehr vollen Terminkalender in Estland; und ich denke, es ist falsch, für Fotos in die Ukraine zu reisen“, sagte sie dem Estonski Express. Immerhin schickte sie Ende Februar ihren Verteidigungsminister und Parteikollegen Hanno Pevkur nach Kiew.

70.000 Ukrainer im 1,3-Millionen-Einwohner-Land

Im estnischen Wahlkampf wurde nun versucht, Kallas’ Reformpartei einen Strick aus dem Ukraine-Engagement zu drehen. Premier Kallas denke nur an die Ukraine oder ukrainische Flüchtlinge, zetert die Opposition. Estland hat rund 70.000 Ukrainer aufgenommen, was mehr als zwei Prozent der eigenen Bevölkerung entspricht. Da die Inflation mit fast 20 Prozent so hoch ist wie noch nie seit dem EU-Beitritt 2004, kommt dies im Wahlkampf gut an. Doch Kaja Kallas argumentiert im Estionski Ekspress, die Verteidigung gegen das imperialistische Russland unter Putin – in der Ukraine wie auch in Estland selbst – sei wichtiger als der Kampf gegen die Inflation. „Ohne Verteidigung gibt es keine Wirtschaft“, begründet Kallas und rechnet vor, dass Estland im Kriegsjahr 2022 immerhin noch ein Wachstum von 0,5 Prozent hatte, während die Wirtschaftsleistung der Ukraine um 30 Prozent schrumpfte.

„Wir sind auf der Seite des Volkes und der armen Leute und wollen deshalb die Mehrwertsteuer von heute 20 auf 5 Prozent senken.“ Das sagt Kallas’ einstige Außenministerin Eva-Maria Limets bei einem persönlichen Gespräch im Fraktionsraum ihrer Zentrumspartei (KESK) im „Riigikogu“, dem estnischen Parlament. Die Legislative residiert auf dem Domberg in der Altstadt von Tallinn. Die Fenster sind mit Klebeband gegen den eisigen Wind zugeklebt, denn das alte Heizsystem ist überfordert. Und für den Wahlsonntag sind noch eisigere Winde angesagt.

Liimets erzählt von ihrem Wahlkampf in der Provinz. Die Inflation sei das Hauptproblem, vor allem für die Rentner, erzählt sie. „Viele Wähler haben mich aber auch gefragt, wie es mit der Ukraine weitergehe und wann der Krieg ende.“ Limets lässt offen durchblicken, dass sie auf eine Neuauflage der „Großen Koalition“ mit Kaja Kallas’ Reform-Partei hofft. „Vieles, was EKRE vorschlägt, kann ich persönlich nicht unterstützen, und als Frau will ich nicht zurück zu Heim und Herd“, sagt sie. Doch Koalitionsverhandlungen seien eben immer ein Kompromiss, meint Liimets, die nicht verneint, dass sie gerne wieder Außenministerin wäre. Liimets atmet tief durch: „Die Wahlresultate stehen Sonntag etwas nach Mitternacht fest, davon hängt nun alles ab.“