Donnerstag6. November 2025

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GroßbritannienErstmals wird auch im maroden Gesundheitswesen gestreikt

Großbritannien / Erstmals wird auch im maroden Gesundheitswesen gestreikt
Der britische Verkehrsminister Mark Harper (M.) konnte am Donnerstag, nach einem Gespräch mit der Eisenbahnergewerkschaft RMT, einen Streik am heutigen Samstag nicht verhindern (Bild vom Oktober) Foto: Niklas Halle’n/AFP

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Seit Wochen ist davon die Rede, im Advent soll es Realität werden: Zum ersten Mal in seiner über 100-jährigen Geschichte ruft der Berufsverband der Pflegekräfte (RCN) seine rund 300.000 Mitglieder in den Ausstand.

An zwei Dezembertagen werden Krankenschwestern und -pfleger lediglich für absolut lebenserhaltende Maßnahmen zur Verfügung stehen. „Unsere Mitglieder haben genug von geringer Bezahlung und einem Personalstand, der die Patienten gefährdet“, gab RCN-Chefin Pat Cullen zur Begründung an. Die Opposition forderte die konservative Regierung von Premier Rishi Sunak zu unverzüglichen Verhandlungen auf.

Durch die beiden Streiktage dürfte sich die ohnehin ellenlange Warteliste für Eingriffe wie künstliche Hüften und Darmspiegelungen zusätzlich verlängern. Die Warteliste liegt schon jetzt bei der Rekordmarke von mehr als sieben Millionen.

Dem Ausstand im nationalen Gesundheitssystem NHS dürften sich nach und nach auch die Mitglieder kleinerer Gewerkschaften anschließen, darunter Hebammen und Reinigungspersonal; sie sind bereits zu Urabstimmungen aufgerufen. Der Arbeitskampf bezieht sich auf England, Wales und Nordirland; in Schottland erwägen die regionalen RCN-Funktionäre ein neues Angebot der zuständigen Edinburgher Regionalregierung. Berufsanfänger würden danach acht Prozent mehr Lohn bekommen.

Im Rest des Landes haben sämtliche NHS-Bediensteten durchschnittlich vier Prozent mehr bekommen. Der nationalen Statistikbehörde ONS zufolge lag die Inflationsmarke RPI zuletzt bei 14,2 Prozent, für Lebensmittel zahlen die Briten oft ein Fünftel oder sogar Viertel mehr als vor Jahresfrist. Die Gewerkschaft fordert deshalb nach jahrelangen Nullrunden diesmal den Inflationsausgleich plus fünf Prozent. „Unbezahlbar“ findet dies Gesundheitsminister Stephen Barclay und verweigert jedes weitere Gespräch.

Hingegen haben Kabinettskollegen in jüngster Zeit größere Flexibilität gezeigt. Nach monatelangem Streit einigte sich der damalige Justizminister Brandon Lewis im September mit Gerichtsanwälten auf einen Kompromiss; hatten sich Pflichtverteidiger zuvor häufig mit dem Mindestlohn begnügen müssen, erhalten sie nun 15 Prozent höhere Gebühren.

Auch die Eisenbahner im Ausstand

Am Donnerstag traf sich der neue Verkehrsminister Mark Harper mit dem ebenso charismatischen wie beinharten Chef der Eisenbahnergewerkschaft RMT, Mick Lynch. Der Termin hatte hohe Symbolik: Die Eisenbahner ärgern sich zu Recht seit Monaten darüber, dass die Tory-Regierung im Arbeitskampf den direkten Dialog verweigerte, obwohl die Regierung letztlich den privatisierten Eisenbahn-Unternehmen die Konditionen eines Tarifvertrags vorgibt. „Mick & Mark“, wie die Londoner Boulevardblätter das ungleiche Paar sogleich tauften, äußerten sich anschließend zufrieden über das „positive Treffen“.

Das ändert aber nichts am neuerlichen 24-Stunden-Ausstand der Eisenbahner an diesem Samstag. Für die Zeit vor und nach Weihnachten hat RMT bereits weitere Streiktage angekündigt, zum Entsetzen von Einzelhandel und Verkehrsplanern. Dem Hotel- und Gastgewerbe könnten durch die Serie von zweitägigen Streiks im Advent und zu Beginn des neuen Jahres Umsatzverluste von umgerechnet 1,75 Milliarden Euro entstehen, glaubt die Lobbygruppe UKH.

Neue Verhandlungen sind umso dringlicher, als Angebot und Forderung einstweilen weit auseinanderliegen: Die Arbeitgeber bieten zwei bis drei Prozent Gehaltserhöhung an, Lynch will bei 7 bis 8 Prozent abschließen, wehrt sich zudem gegen die Streichung von Arbeitsplätzen.

Vieles spricht dafür, dass den Briten ein Streik-haltiger Winter bevorsteht. Denn auch in anderen Branchen wollen sich die Bediensteten schlechte Bezahlung und immer höhere Anforderungen nicht gefallen lassen.

Streiktendenz deutlich steigend

In Schottland blieben am Donnerstag praktisch alle Primar- und Sekundarschulen geschlossen. Beim ersten Arbeitskampf seit 30 Jahren geht es vor allem um die massiven Einkommensverluste der vergangenen zehn Jahre; Angaben der Gewerkschaft EIS zufolge liegen die Lehrergehälter, gemessen an der Inflation, heute bei 75 Prozent des Niveaus von 2010. Ähnlich argumentierten Dozenten und Fachpersonal an den renommierten Universitäten des Landes; bei ihnen kommt ein seit langem schwelender Streit um die Höhe der Renten und Pensionen hinzu. Der Sektor hat in den vergangenen Jahren enorm expandiert, die Intensität der Finanzkontrollen hielt mit dem Ehrgeiz der Rektorate nicht Schritt. Die entstandenen Haushaltslöcher sollen jetzt die Uni-Bediensteten stopfen, indem sie sich mit geringerer Altersversorgung zufriedengeben.

Am Donnerstag waren Schätzungen der UCU-Gewerkschaft zufolge rund 2,5 Millionen Studierende vom „größten Streik in der Geschichte der höheren Bildung“ betroffen. Viele zeigten sich verständnisvoll; andere beklagen den Verlust von ohnehin knapp bemessener Betreuungszeit in dreijährigen Studiengängen, deren Gebühren mindestens 32.190 Euro betragen.

In beiden Branchen soll der Ausstand nach bisheriger Planung auch im neuen Jahr weitergehen. Im Kalenderjahr 2019 gingen dem Königreich durchschnittlich 19.500 Arbeitsstunden pro Monat durch Arbeitskämpfe verloren. In diesem Jahr lag die Durchschnittszahl bis Ende Juli bereits bei 87.600. Und die Tendenz hält an.