Es ist kurz nach Dienstschluss. Zufrieden schaut Dominique Vitali von seinem Computer auf. Er habe soeben der Sitzordnung bei einem Festakt der Gemeinde den letzten Feinschliff verpasst, verrät der gebürtige Escher. „Ich habe meine Kindheit und Jugend größtenteils in der Minettemetropole verbracht. Meine Eltern betrieben eine Schankwirtschaft mit Kegelbahn am Norbert-Metz-Platz. Bereits sehr früh habe ich in diesem geselligen Umfeld meine Liebe zum Tanzen entdeckt.“ Sein Vater sei alles andere als begeistert gewesen, als der Sohn den Wunsch äußerte, in die Tanzschule gehen zu dürfen. Bis zu jenem Nachmittag, als im Fernsehen ein internationales Turnier im Paartanzen lief. So wolle er tanzen, habe er da dem Vater seinen Traum veranschaulichen können. Dessen anfängliche Skepsis sei ehrlichem Interesse gewichen und Dominique, damals neun Jahre alt, durfte zum Unterricht. „Leider starb mein Vater, als ich zwölf war. So konnte er nicht mehr miterleben, wie ich später Profimeister wurde und in der Weltspitze mittanzte“, bedauert er. Doch bis dahin war es ein weiter Weg.
Sein Tanzlehrer bescheinigte ihm Talent. Bald genügten ihm die samstäglichen Trainingseinheiten nicht mehr. Er wollte die internationalen Tanzparkette erobern, Profitänzer werden. Doch dies war in Luxemburg damals nicht möglich. Und von allen umliegenden Ländern erlaubte allein Frankreich ausländischen Anwärtern eine Profikarriere einzuschlagen und an nationalen wie internationalen Begegnungen teilzunehmen. Ein fester Wohnsitz im Hexagon genügte. Hier konnte Dominique also trotz seiner Luxemburger Nationalität durchstarten. Kurzerhand ließ er sich zum Tanzlehrer ausbilden, eröffnete in Metz eine Tanzschule und suchte sich eine Partnerin, um bei Wettbewerben im Paartanz antreten zu können. Diese fand er in Karine Gantelet. Mit ihr tanzte er insgesamt zwölf Jahre von Erfolg zu Erfolg. Nach einer etwa einjährigen Anlaufphase harmonierte das Paar perfekt, war sportlich sowie künstlerisch auf Topniveau und gewann 1996 in einem spannenden Finale die französische Meisterschaft. Auch bei Europa- und Weltmeisterschaften schafften es die beiden zu Top-Platzierungen.
Als Tanzlehrer kam der Höhepunkt Jahre später. Eine Prinzenhochzeit stand an und ein angespannter Dominique bekam die Ehre, den Brauttanz mit dem jungen Paar einzustudieren. „Sie waren so locker und natürlich, ich hatte mich umsonst gesorgt“, erinnert er sich zehn Jahre später.
Das Multitalent
Auf dem Gipfel seines Erfolgs aber begannen Zweifel an dem damals 34-Jährigen zu nagen. Wie lange würde er noch im Turniersport mithalten können? Würde es ihn langfristig nicht langweilen, tagtäglich mehr oder weniger begabte Schüler auszubilden? Denn nicht nur sein Lebenstraum war Wirklichkeit geworden – ihm war auch beschieden, auf glückliche und erfüllte Jahre zurückblicken zu können. Er entschied für sich, es sei Zeit, sich umzuorientieren. Natürlich fiel es ihm schwer, die Tanzschuhe an den Nagel zu hängen, den Nervenkitzel bei den Wettbewerben zu missen. Doch er könne im Bereich der Choreografie oder als Jurymitglied dem Tanzen verbunden bleiben, tröstete er sich. Mit einem allerdings hatte der immer bescheiden gebliebene Startänzer nicht gerechnet. In ihm schlummerten, außer der Begabung zum Tanzen, noch viele andere Talente, die ihm nebenberuflich eine breitgefächerte Showkarriere bescheren sollten.

Beruflich blieb er stets bodenständig, mit fester Anstellung. Er überließ 1997 sein Tanzstudio einem Schüler, kam nach Luxemburg zurück und fand auf Anhieb bei einem Mobilfunkanbieter eine Aufgabe, die seiner Persönlichkeit und seinen Neigungen entsprach. Er zeichnete sich fürs Sponsoring und die Eventorganisation verantwortlich. „Tanzturniere auf internationaler Ebene waren ja auch große Veranstaltungen, voll gespickt mit Sponsoring. Ich hatte als Tänzer praktische Einsicht in diese Branchen bekommen. Organisieren lag mir im Blut und es machte mir eher Spaß als Angst, bei einem Event auch mal vors Mikro zu treten. Langsam schwand die Wehmut des Abschieds vom Tanzen“, bilanziert Vitali. Als sich der Mobilfunkmarkt radikal veränderte, begann er sich nach etwas Neuem umzusehen. Die amerikanische Botschaft suchte einen für Luxemburg zuständigen „Protocol Officer“. „Dieser Posten klang für mich nach Abenteuer. Das war die Gelegenheit, hinter die Kulissen der Diplomatie zu schauen und neue Erfahrungen zu sammeln. Denn wenn man es recht bedenkt: Was ist ein Tanzturnier eigentlich anderes als das Einhalten eines strengen Protokolls. Und Protokoll wiederum ist ebenfalls eine Art Show, eine Domäne, die mir vertraut und lieb war“, meint Dominique humorvoll schmunzelnd.
Er nahm den Job bei der Botschaft an, entwickelte ein gutes Verhältnis zur damaligen Botschafterin, begleitete sie bei vielen ihrer offiziellen Auftritte und fühlte sich schnell im englischsprachigen Milieu zuhause. Zahlreiche seiner neuen Freunde betätigten sich in ihrer Freizeit künstlerisch. Dies kam Dominique zupass. Bei seiner Rückkehr nach Luxemburg hatte er bereits angefangen, kleine Choreografien für Tanz- und Gesangsgruppen zu entwerfen. Vom Tänzer zum Choreografen war es eigentlich ein logischer Schritt. Vitali hatte auch längst, im Rahmen seiner künstlerischen Tanzgestaltung, das Singen für sich entdeckt und war sogar mit einem Gesangschor auf Tournee gegangen. Dass er, der Musical-Fan, einmal selbst ein solches inszenieren würde, kam ihm allerdings nicht in den Sinn.
Am Mikrofon lebte ich richtig auf, denn es galt eine mir wichtige Botschaft zu vermitteln: Liebe ist Liebe, egal wen du liebst!
Als man ihn dann fragte, bei der amerikanischen Originalfassung von „La Cage aux Folles“ die Choreografie für eine Aufführung im Escher Theater zu übernehmen, machte er sich stark beeindruckt an die Arbeit. Im Laufe der Proben fiel plötzlich der Hauptdarsteller aus, der Choreograf übernahm ersatzweise den Part und sang schlussendlich bei den vollbesetzten Aufführungen im Escher Theater definitiv die tragende Rolle des Albin/Zaza. Eine Woche lang gab es allabendlich stehenden Beifall: bis dato nie Dagewesenes für die Musical-Truppe!

Zurück in seine Heimatstadt kam Dominique Vitali 2009, als er dem Ruf der derzeitigen Gemeindeverantwortlichen folgte, sich für den Posten des Protokollbeauftragten bewarb und angenommen wurde. Fast gleichzeitig mit dem Beginn der neuen beruflichen Etappe tat sich ihm ein weiteres Feld auf. Das „Gaymat“, heute Luxemburg Pride, hatte in Esch Fuß gefasst. Dominique Vitali brachte sich ob seiner Kontakte mit Rosa Lëtzebuerg und seiner beruflichen Stellung in die Organisation des Events ein. Als aus der anfänglich kleineren Veranstaltung dank der Unterstützung der Escher Gemeinde ein großes Festival mit Umzug und Konzerten wurde, übernahm er die Bühnenmoderation. „Am Mikrofon lebte ich richtig auf, denn es galt eine mir wichtige Botschaft zu vermitteln: Liebe ist Liebe, egal wen du liebst! Meine Fähigkeit zu improvisieren, genau wie meine Vielsprachigkeit, waren von Vorteil und verliehen mir das (hoffentlich) lockere Auftreten. Dass ich 2022 die Weltstars Boy Georges & Culture Club vor einem überschwänglichen Publikum ansagen durfte, war für mich bis jetzt der Glanzpunkt meiner Moderatoren-Laufbahn“, sagt der 58-jährige, der kürzlich nach zwanzig Jahren Beziehung seinen britischen Lebenspartner Paul geheiratet hat.
Die Kunstfigur Gina Moltofrigida
Dominique Vitali wirkt ausgeglichen und in sich ruhend. Er scheint es geschafft zu haben, Beruf, Berufung und Privatleben unter einen Hut zu bringen. Neben einer Reihe von Rückschlägen habe er viel Bestätigung und Unterstützung auf seinem manchmal doch beschwerlichen Weg gefunden, so Vitali. Dass sein schöpferischer Ideenreichtum noch nicht am Versiegen ist, beweist seine künstlerische Entwicklung. Bei seinen Auftritten verkörpert er nun die Sängerin Gina Moltofrigida, eine selbstgeschaffene Bühnenfigur. Der Name sei unter anderem eine Hommage an seine italienische Abstammung.
Mittels der Figur wolle er auch mit einer Reihe von Klischees aufräumen. Gina lehne es ab, die gängigen Vorstellungen und Erwartungen zu erfüllen. Sie bleibe immer selbstbestimmt. Sie sei denn auch keine junge Frau mehr, trotzdem eine auffallende Erscheinung, mit hin und wieder Starallüren und immer noch eine Größe im Showbusiness. „Meine Darbietung ist keine Travestieshow im eigentlichen Sinne“, erklärt der Künstler. „Ich verwandle mich dafür zwar in eine weibliche Figur, dies aber, weil ich hinter der Schminke eine größere Narrenfreiheit habe, kesser sein kann und mir manche spitze Formulierung eher verziehen wird.“ Er wähle weltbekannte Melodien zur Untermalung des Gesangs aus, schreibe seine luxemburgischen Liedertexte selbst und wolle nicht nur Interpret sein. Gina solle zur vertrauten Freundin werden. Für ihn mache die Ausstrahlung den Künstler aus. Wohl weise seine fiktive Bühnengestalt gelegentlich autobiografische Züge auf, denn (auch) Gina habe lange gebraucht, um sich zu finden. Und vielleicht suche sie immer noch ein wenig. „Ob meine Texte nun humorvoll, kritisch oder bissig sind, das muss dann das Publikum entscheiden“, schließt Dominique Vitali – oder war das jetzt die Moltofrigida?

De Maart
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