Ausgemusterte, leicht radioaktive Rauchmelder aus Slowenien machten am Mittwoch überraschend im Ukraine-Krieg Karriere. Laut einem Tweet des russischen Verteidigungsministeriums soll ein Foto entsprechender Müllsäcke der ex-jugoslawischen Republik belegen, dass die Ukraine mit Anleitung des Westens eine „schmutzige Bombe“ baue. Das slowenische Außenministerium stellte den russischen Fake sofort bloß.
Doch die russische Mär von der angeblich bald von der ukrainischen Armee zu zündenden „schmutzigen Bombe“, also einer konventionellen Explosion radioaktiv verseuchter Bestandteile, bei der es im Unterschied zu Hiroshima zu keiner Kernreaktion kommt, hatte sich bereits verselbständigt. Die „schmutzige Bombe“ soll von ukrainischen Soldaten gezündet, aber dann Moskau in die Schuhe geschoben werden, dies behaupten russische Regierungs- und Generalstabsmitglieder seit ein paar Tagen.
„Es ist bekannt, dass es Pläne gibt für eine Provokation, eine sogenannte schmutzige Bombe einzusetzen“, behauptete sogar Wladimir Putin in Moskau. Putin bezeichnete am Mittwoch die Ukraine als „Instrument amerikanischer Außenpolitik“ und sagte, diese hätte ihre Souveränität und damit Daseinsberechtigung bereits verspielt. Die Ukraine sei „in ein Übungsgelände für militärbiologische Experimente verwandelt“ worden, so Putin.
Gleich zweimal hatte zuvor der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu – zum ersten Mal seit einem knappen halben Jahr – wieder mit seinem amerikanischen Amtskollegen Lloyd Austin telefoniert, um diesen von der angeblichen Gefahr zu warnen. Anrufe von Schoigu bekamen auch sein britischer, französischer und türkischer Amtskollege.
Moskau droht mit dem Abschuss ziviler Satelliten
Sie alle wiegelten ab und verneinten ein solches Ansinnen. Die Ukraine lud sofort Experten der Internationalen Atomenergie-Organisation IAEA ein, um die beiden von Moskau genannten Forschungsstätten in Kiew und Schowti Wodybei Dnipro, in denen die „schmutzige Bombe“ gebaut würde, zu überprüfen. Die Experten sind inzwischen unterwegs in die Ukraine. Aber Moskau hat bereits – wenig überraschend – durchblicken lassen, es würde den IAEA-Ergebnissen eh nicht trauen.
In der Nacht zum Donnerstag erreichte die von Russland angezettelte Panik einen vorläufigen Höhepunkt: Moskau drohte während einer UNO-Sitzung in New York indirekt mit dem Abschuss ziviler Satelliten – darunter vor allem Elon Musks „Starlink“-Satelliten, die der ukrainischen Armee die Internet-Koordination an der Front ermöglichen – und beantragte beim UN-Sicherheitsrat zwei Prüfungsverfahren in der Ukraine: Eine UN-Kommission soll vor Ort abklären, wo es ukrainisch-amerikanische Biowaffenlabore gibt und was diese herstellen, die andere Kommission soll die Herstellung von „schmutzigen Bomben“ prüfen. Die russischen Anträge haben im 15-köpfigen Gremium keine Chance. Doch werden sie bereits wieder medienwirksam diskutiert, womit der Kreml ein Ziel erreicht hat.
Die Anschuldigungen der angeblichen Biowaffen- und „schmutzigen“ Bombenproduktion sind nicht neu. Moskau warf Kiew genau dasselbe bereits im Februar kurz vor der Invasion in die Ukraine vor. Nach dem damals noch überraschenden russischen Angriff auf das Nachbarland am 24. Februar lassen heute die Reaktionen wenig Klarheit missen. „Die NATO lässt sich nicht provozieren“, sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg am Mittwoch. Washington, Paris und London hatten bereits Anfang der Woche Schoigus’ Vorwürfe in einer gemeinsamen Erklärung als „durchsichtig falsche Behauptungen“ Moskaus zurückgewiesen. „Wir haben in der Vergangenheit gesehen, dass die Russen gelegentlich andere für Dinge verantwortlich gemacht haben, die sie vorhatten zu tun“, hatte der Kommunikationschef des amerikanischen Nationalen Sicherheitsrates, John Kirby, bereits Montag gewarnt.
Mehrere Theorien für russische Behauptungen
In der Ukraine selbst sieht man die hektische Moskauer Drohkulisse einer angeblich geplanten „schmutzigen Bombe“ als Ausdruck der zunehmenden Ratlosigkeit und Verzweiflung des Kremls. „Das Gefühl einer Niederlage in Russland wird stärker“, kommentierte Präsident Wolodymyr Selenskyj. Russland habe einmal politisches Gewicht gehabt, aber heute werde es international zunehmend isoliert. Heute müsse Russland selbst Iran um Drohnen anbetteln und erfinde „verschiedenen Unsinn“, um vom Westen Zugeständnisse zu erreichen, höhnte Selenskyj in einer Ansprache an die Nation.
Kiewer Kommentatoren sehen die wieder aufgewärmte russische Mär von einer „schmutzigen Bombe“ auch als Versuch, von Kriegsverbrechen und militärischen Misserfolgen an den Fronten im Donbass und bei Cherson abzulenken. Manche geben auch zu bedenken, dass das Spiel mit der atomaren Bomben-Gefahr westlichen Druck auf Selenskyj aufbauen soll, Verhandlungen mit Russland über einen Waffenstillstand oder gar ein Ende des Krieges zu suchen. Beides könnte zum jetzigen Zeitpunkt Russlands schwindende Geländegewinne sichern.
Ukraine: Stromversorgung eingeschränkt
Nach erneuten russischen Angriffen auf die ukrainische Energie-Infrastruktur wird die Stromversorgung im Zentrum des Landes weiter eingeschränkt. Dies sei notwendig, um einen vollständigen Stromausfall in dem Gebiet zu verhindern, erklärte der stellvertretende Leiter des ukrainischen Präsidialbüros, Kyrylo Tymoschenko, am Donnerstag in Onlinenetzwerken.
Die Einschränkungen betreffen nach seinen Angaben die Regionen Tschernihiw, Tscherkassy, Schytomyr sowie die Hauptstadt Kiew und Umgebung. Seit mehr als zwei Wochen bombardiert Russland das ukrainische Energienetz. Mindestens ein Drittel der Stromanlagen des Landes wurden dabei zerstört. In Kiew war bereits in den vergangenen Tagen in wechselnden Vierteln für mehrere Stunden der Strom abgestellt worden. (AFP)
De Maart
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