Jekaterina hat zwei Rosen mitgebracht. In dunkelrosa. Die Blätter flattern im Wind. Vor bald 70 Jahren hat Jekaterina – der Nachname spiele keine Rolle, sagt sie – schon einmal hier gestanden. Hinter sich das Bolschoi-Theater, vor sich das Haus der Gewerkschaften mit dem Säulensaal, in dem sowjetische wie russische hohe Funktionäre nach ihrem Tod aufgebahrt werden, damit sich das Volk von ihnen verabschieden könne.
„Es waren Massen, alle in Schwarz, viele Milizionäre, irgendwelche Generäle, Absperrungen überall, irgendjemand schrie“, erzählt Jekaterina, als sie von einem Absperrgitter zum nächsten läuft. Und wartet, wartet, wartet. Damals wurde sie hinter dem Zaun ihres Kindesgartens mitten in Moskau Zeugin der Beerdigung von Josef Stalin, dem sowjetischen Schlächter. „Die Erzieherinnen hatten uns gesagt, dass an so einem wichtigen Tag niemand uns abholen komme. Ich habe gezittert vor Angst.“ Die Mutter sei dann doch zu ihr durchgedrungen, der einzig mögliche Weg nach Hause sei der Gang am toten Stalin vorbei gewesen. „Lange her“, sagt Jekaterina und hält ihre Rosen fest wie einen Schatz. Nun, mit über 70 Jahren, will die frühere Restauratorin freiwillig ins Gewerkschaftshaus. Will dem Mann danken, mit dem das Leben, wie sie meint: „Schön und lustig und endlich frei wurde“. Michail Gorbatschow, der nach einer langen Krankheit am vergangenen Dienstag gestorben ist. Er wurde 91 Jahre alt.
Das offizielle Moskau gibt sich kühl
Das offizielle Moskau gibt sich kühl. Kein Staatsbegräbnis, kein Trauertag. Lediglich die Ehrengarde des Kremls steht bereit. Russlands Präsident Wladimir Putin bleibt der „Panichida“ fern, wie die Totenmesse im Russischen heißt. „Voller Terminkalender“, hatte der Kremlsprecher Dmitri Peskow ausrichten lassen. Putin verabschiedete sich stattdessen bereits am Donnerstag im Moskauer Zentralkrankenhaus von dem Mann, dem er die Verantwortung für die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ gibt, wie Putin den Zerfall der Sowjetunion einst bezeichnete. Sein Abschied wirkte wie eine Pflichtveranstaltung: Blumen ablegen, kurz zum Schwarz-Weiß-Bild Gorbatschows schauen, die Hand an den Sarg legen. Nach 40 Sekunden war es vorbei. Im Fernsehen polterten die Propagandisten. Gorbatschow habe dem Westen zu sehr vertraut, habe sich von diesem Westen ausnutzen lassen. Die immer gleichen Phrasen des offiziösen Narrativs.

Putins Nachfolger und Vorgänger Dmitri Medwedew kommt hingegen am Samstag vorbei und legt, bevor die wartenden Frauen wie Männer Zutritt zum Säulensaal bekommen, Blumen am offenen Sarg nieder. Aus der EU reist der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán an, andere EU-Länder und die USA schicken Botschafter oder deren Vertreter. Orbán geht zum Sarg, hält kurz inne, geht zu den Angehörigen – Gorbatschows Tochter Irina sitzt im Saal, die beiden Enkelinnen daneben, auch Dmitri Muratow, der Chefredakteur der Nowaja Gaseta und wie Gorbatschow Friedensnobelpreisträger.
Der Tod Gorbatschows fällt mit dem Tod unserer Freiheit zusammen
Es ist ein leiser Abschied ohne Pomp. Die Menschen stehen beharrlich an, sie kommen ins Gespräch, wirken fast schon gelöst, dass so eine große Ansammlung mitten in Moskau nicht von Spezialpolizisten auseinandergetrieben wird. Es ist eine Art Protest der Nichteinverstandenen mit dem Handeln ihrer Regierung. „Der Tod Gorbatschows fällt mit dem Tod unserer Freiheit zusammen, unserer Illusionen, dass wir ein einigermaßen normales Leben führen können“, sagt Viktor Stepanow. „Russland ist zu einem in der Welt verhassten Land geworden, was klar ist angesichts dessen, was wir in der Ukraine anstellen. Wir dachten, Isolation und Drohungen sind längst Geschichte, wir waren naiv.“ Der 28-Jährige war noch nicht auf der Welt, als Gorbatschow 1985 Generalsekretär der KPdSU wurde und mit seiner „Perestroika“ (Umbau) und „Glasnost“ (Offenheit) den Sowjetbürgern die Angst zu nehmen anfing. „Er und seine Reformen haben mein Verständnis von einem Menschen letztlich geprägt. Von einem freien Menschen. Er war trotz aller Fehler eine Ausnahmeerscheinung im Kreml. Ich will ihm danken.“ Auch Jekaterina, die 76-jährige Restauratorin, will sich verneigen vor Gorbatschow – und sich entschuldigen, weil „viele von uns nicht begriffen haben, wie wichtig es ist, Bürger zu sein, und nun in schrecklich dunkle Zeiten zurückfallen“.
Gorbatschow, das sagen viele beim Warten vor dem Gewerkschaftshaus, habe das Land verändert, das Stalinistische hinweggefegt und es doch nicht geschafft, die Menschen mit der Freiheit, die er ihnen brachte, zu versöhnen. Viele in Moskau und im ganzen Land wissen gar nicht, dass eine historische Figur an diesem Samstag zu Grabe getragen wird. „Was ist denn hier schon wieder los?“, fragen da manche Passanten, als sie die Menschenschlangen sehen. „Gorbatschow tot? Ach so“, sagen sie beiläufig und gehen weiter.

Im abgedunkelten Säulensaal erklingt leise klassische Musik, ein Bild von Gorbatschow wird an die Wand projiziert. Der einstige Generalsekretär hat da die Hände zusammengefaltet, schaut offen und liebevoll großväterlich auf die Menschen herunter, die ihre Nelken, Astern, Hyazinthen ablegen. Manche bleiben kurz stehen, bekreuzigen sich vor dem Sarg und laufen weiter über den Teppich auf dem Parkettboden. Reden gibt es nicht, es ist ein leiser, fast ein inniger Abschied vom einstigen Staatsmann.
Wie ein Schlag ins Gesicht des toten Gorbatschow
„Es war mir wichtig, persönlich ,Ade‘ zu sagen“, sagt Anna, die aus der gleichen Region im Nordkaukasus wie Gorbatschow kommt. „Ich war um die 20, als er an die Macht kam. Ich verstand wenig von seinen Reformen, ärgerte mich natürlich über die leeren Regale und die Lebensmittelkarten.“ Im Nachhinein denke sie anders über die damalige Zeit, meint sie. „Wir konnten da, allen Schwierigkeiten zum Trotz, frei atmen, durften die Mächtigen kritisieren, uns versammeln. Ja, später sogar ins Ausland reisen. Es war eine Aufbruchsstimmung. Und jetzt geht alles den Bach runter: Kritik führt zu Knast, über den Elefanten im Raum reden wir leise in unseren Küchen, unsere Führung lügt und betrügt uns offen“, sagt Anna. Gegenüber dem Gewerkschaftshaus wird ein Theater renoviert. An der Plane steht: „Zadatschu Vypolnim“ (Die Aufgabe werden wir erfüllen). Die „Aufgabe“, die Putin mit dem Verkünden seiner „militärischen Spezialoperation“ am 24. Februar vorgegeben hat, lautet: Zerstörung der Ukraine. Das Z und das V, diese Symbole des russischen Überfalls auf das Nachbarland, sind wie ein Schlag ins Gesicht des toten Gorbatschow und aller Lebenden, die ihm hier die letzte Ehre erweisen wollen. „Es sind dunkle Zeiten, sehr dunkle Zeiten“, wiederholt sich Jekaterina, die Restauratorin.
Als der Sarg herausgetragen wird und im schwarzen Mercedes zum Friedhof des Neujungfrauenklosters gebracht wird, klatschen die Menschen entlang der Straße. „Danke“, rufen manche. Andere weinen. Es sind auch Tränen ihrer verlorenen Freiheit.
Fast schon kitschig wirkt da der Regen, der just in dem Augenblick anfängt, als Gorbatschows Sarg zum Grab neben seiner 1999 verstorbenen Frau Raissa getragen wird. Das Blasorchester spielt einen Trauermarsch. Die Menschen sind still.
De Maart
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