Mittwoch5. November 2025

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Ukraine-KriegAlle Augen auf die Windrichtung – die Lage am AKW Saporischschja bleibt angespannt

Ukraine-Krieg / Alle Augen auf die Windrichtung – die Lage am AKW Saporischschja bleibt angespannt
Die Zusammenstellung von Satellitenbildern von vergangener Woche zeigt Rauch, der von Bränden im Kernkraftwerk Saporischschja aufsteigt Foto: dpa/Planet Labs Pbc

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Die gute Nachricht des Wochenendes war die, dass am AKW Saporischschja keine erhöhte Strahlung feststellt wurde. Die Lage aber bleibt bedrohlich. Der Beschuss der Anlage geht weiter. Die Sorge vor einem erneuten „Tschernobyl“ hält an. 

Wie weht der Wind? Der banalen Frage kommt in der Ukraine, Russland und Europa wieder besondere Wichtigkeit zu. Sollte es zum Super-GAU in Europas größtem Atomkraftwerk Saporischschja kommen, entscheidet sie sogar über Leben und Tod. Auf Twitter laufen täglich Simulationen, wen die nuklearen Wolken erreichen würden. Ein GAU zwischen dem 26. und dem 28. August hätte die Ukraine besonders getroffen, vom 29. bis 31. August sind Krim, Schwarzes Meer, Teile der Türkei und vor allem Russlands bedroht.

Die etwas andere Wettervorschau ist nötig geworden, nachdem die Lage um das von Moskau bereits seit März besetzte AKW mit seinen sechs Reaktoren Woche um Woche eskaliert ist. Sowohl die Ukraine wie Russland werfen der jeweils anderen Seite den Beschuss der Anlage nahe der Frontlinie im Süden der Ukraine vor.

Ukrainische Arbeiter, russische Soldaten

Ukrainische Arbeiter sorgen hier weiterhin für das Funktionieren. Satellitenaufnahmen der britischen Geheimdienste zufolge wird aber immer mehr russisches Militär auf dem Gelände stationiert. Warum die Russen ein AKW-Gelände mit Artillerie beschießen sollten, auf dem ihre eigenen Soldaten stationiert sind – man weiß es nicht. Weshalb die Ukrainer das tun sollten, obwohl ein GAU vor allem sie treffen würde – man weiß es nicht. Man weiß auch nicht, wieso überhaupt jemand auf die Idee kommen sollte, Raketen auf ein AKW zu schießen – und trotzdem geschieht es, seit Wochen. Die Nerven liegen nach sechs Monaten Krieg auf beiden Seiten offenbar zusehends blank.

Am Wochenende warf der ukrainische Kraftwerksbetreiber Energoatom russischen Truppen vor, die Anlage „im Laufe des vergangenen Tages wiederholt“ beschossen zu haben. Dadurch sei die Infrastruktur des größten Atomkraftwerks Europas beschädigt worden, die Gefahr eines Brands und eines Austritts von Radioaktivität sei hoch. Die Anlage sei weiter in Betrieb, aber „mit dem Risiko, Radioaktivitäts- und Feuerschutz-Standards zu verletzen“. Nahe dem AKW wurden zudem die Städte Nikopol und Marhanets am Samstag von Granaten getroffen, wie der Bürgermeister von Nikopol mitteilte. Die Ukraine beklagt immer wieder, dass Russland diese Städte mit Artillerie beschieße, die sich auf dem AKW-Gelände verschanzt habe, was ein Gegenfeuer quasi unmöglich mache.

Moskau wies die Vorwürfe wie gewohnt umgehend zurück. Das russische Verteidigungsministerium erklärte, die ukrainischen Streitkräfte hätten das Gelände des AKWs von der Stadt Marhanets auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses Dnipro aus „dreimal beschossen“. Dabei seien Granaten auch in der Nähe von zwei Lagern für frische Brennelemente und radioaktive Abfälle gelandet. Auch das Dach eines Gebäudes, in dem Nuklearmaterial gelagert werde, sei dabei getroffen worden. Am Sonntagabend meldeten russische Agenturen, über dem AKW sei eine ukrainische Kampfdrohne abgeschossen worden. Die Drohne sei dann auf die Sicherheitshülle über einem Reaktor gefallen, die Sprengstoffladung sei ohne Schaden anzurichten detoniert. Die russische Seite unterstellte, dass die Drohne ein Lager für abgebrannte Brennstäbe angreifen sollte. Weder die Angaben von der einen noch die von der anderen Seite können unabhängig überprüft werden.

Cyberangriff auf Montenegro

Die Regierung in Montenegro ist Ziel einer großangelegten Cyberattacke geworden, für die sie Russland verantwortlich macht. Einen Hackerangriff dieses Ausmaßes habe der kleine Balkanstaat bisher noch nicht erlebt, sagte Verwaltungsminister Maras Dukaj am Samstag. Die Computersysteme mehrerer staatlicher Behörden seien „infiziert“ worden, darunter des Finanzministeriums. Dank rascher Gegenmaßnahmen sei die IT-Infrastruktur nicht dauerhaft beschädigt worden, erklärte Dukaj. Verteidigungsminister Rasko Konjevic machte Russland für die am Freitag und Samstag erfolgte Attacke verantwortlich. Er sprach von „ausgesprochen ausgefeilten Angriffen“, zu denen einzelne Hacker nicht in der Lage wären. „Wer könnte ein politisches Interesse daran haben, Montenegro einen solchen Schaden zuzufügen?“, fragte er im staatlichen Fernsehen und sprach von „ausreichenden Hinweisen“, um Moskau hinter dem Angriff zu vermuten. Wegen Montenegros Unterstützung der EU-Sanktionen nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine hatte der Kreml das Land im März auf seine Liste der „feindlichen Staaten“ gesetzt. Mehrere Medien berichteten unter Berufung auf ein „informelles Briefing“ der Nationalen Sicherheitsbehörde, dass die gesamte Infrastruktur gefährdet wurde, einschließlich der Strom- und Wasserversorgung. Die Kraftwerke seien auf manuellen Betriebsmodus umgestellt worden. Auch die USA nahmen den Cyberangriff ernst und warnten ihre Bürger in Montenegro vor „anhaltenden“ Cyberangriffen, die zu Störungen im öffentlichen Dienst, im Transportwesen einschließlich an Grenzübergängen und Flughäfen sowie im Telekommunikationsbereich führen könnten. (AFP)

Immerhin hat die angespannte Lage auch nach dem Notstopp und dem erneuten Beschuss bisher nicht zu erhöhten Strahlungswerten geführt. Die Strahlensituation sei normal, hieß es am Sonntag übereinstimmend aus Moskau und Kiew. Trotzdem wächst die Sorge, dass es in Saporischschja zu einer ähnlichen Atomkatastrophe kommen könnte wie 1986 im ukrainischen Tschernobyl. Die Einwohner im Umkreis von 50 Kilometern erhalten bereits seit dem 23. August von den Behörden in Saporischschja Jod-Tabletten, um sie im Notfall sofort zur Hand zu haben.

Am 4. März begannen die Sorgen um das AKW – die russischen Streitkräfte hatten das Gelände erstmals beschossen
Am 4. März begannen die Sorgen um das AKW – die russischen Streitkräfte hatten das Gelände erstmals beschossen Foto: dpa/uncredited

Hoffnung machte zuletzt die Aussicht auf eine Untersuchung der Anlage durch die UN-Atomenergie-Agentur IAEA. Doch deren Inspektoren warteten auch am Wochenende weiter auf grünes Licht und die erforderlichen Sicherheitsgarantien. IAEA-Chef Rafael Grossi warnte vergangene Woche vor der Gefahr einer Nuklearkatastrophe, die die Umwelt in der Ukraine und darüber hinaus bedrohen könne. Vor wenigen Tagen äußerte er sich hoffnungsvoll, dass seine Behörde „sehr, sehr nahe“ davor stehe, die Erlaubnis zur Inspektion der Anlage zu erhalten, und dass er „in den nächsten Tagen persönlich eine IAEA-Mission in der Atomanlage leiten“ wolle.

Moskau blockiert UN-Abschlusserklärung

Wie verhärtet die Lage um das AKW Saporischschja ist, zeigte sich am Freitag auch in New York am Hauptquartier der Vereinten Nationen. Russland hatte dort zum Ende einer vierwöchigen UN-Konferenz über Atomwaffen und trotz einer um mehrere Stunden verschobenen Abschlusssitzung die Verabschiedung einer gemeinsamen Abschlusserklärung blockiert – wegen Saporischschja. Laut dem Entwurf zum Abschlusspapier, den die Nachrichtenagentur AFP einsehen konnte, wollte die Konferenz ihre „ernste Besorgnis“ über militärische Aktivitäten an ukrainischen Atomkraftwerken und anderen sicherheitsrelevanten Einrichtungen zum Ausdruck bringen, insbesondere am AKW Saporischschja. Moskau waren diese Absätze „offenkundig politisch“ und verweigerte die Unterschrift.

Die Sorgen um eine Katastrophe beim ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja bleiben derweil bestehen. Auch die kommenden Tage werden viele beobachten, wie der Wind über der Ukraine weht.

Putin umwirbt Ukrainer

Kreml-Chef Wladimir Putin hat ein Dekret über monatliche Sozialleistungen für die vor dem Krieg in der Ukraine nach Russland geflüchteten Menschen unterzeichnet. So sollen Rentner monatlich 10.000 Rubel (rund 166 Euro) erhalten und Frauen für die Geburt eines Kindes einmalig 20.000 Rubel. Berechtigt seien Flüchtlinge, die wegen des Krieges ihre Heimat verlassen mussten, heißt es. Die ukrainische Regierung wirft Moskau immer wieder vor, die Menschen zu verschleppen und in „Filtrationslagern“ zu halten. Auch Menschenrechtler beklagen, dass Ukrainer oft gezwungen seien, ihr Land in Richtung Russland zu verlassen. Die russischen Behörden sprachen Anfang August von mehr als 3,2 Millionen Flüchtlingen. Überprüfbar ist die Zahl nicht. Putin hatte vor einigen Tagen zudem Geldzahlungen für Menschen in besetzten Gebieten angeordnet. (dpa)