In gut vier Wochen werden die italienischen Wahlberechtigten entscheiden, welche politische Kraft in den kommenden Jahren die Geschicke des Landes leiten soll. Eine wesentliche Frage, die von den künftig Regierenden entschieden werden muss, ist: Wie gehen wir gegen die immer stärker um sich greifende Armut im Lande vor?
Statistische Auskünfte der vergangenen Wochen geben Grund zu hoher Besorgnis. Rund 20,1 Prozent der Bevölkerung – wir sprechen hier von 11,84 Millionen Menschen – waren im Jahr 2021 von Armut betroffen. Prognosen für das laufende Jahr geben eine Steigerung auf 25,2 Prozent (14,83 Millionen) an. Jedes vierte Kind im Alter unter sechs Jahren lebt in Italien in einer Familie unterhalb der absoluten Armutsgrenze, insgesamt sind es hier 667.000 Kinder, deren Zukunftsaussichten bereits heute mit dem Armutsstempel gekennzeichnet sind. Dies alles, so die Statistiker, seien die schlechtesten Werte seit 1995.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine verschärft auch die soziale Lage der westeuropäischen Bevölkerung. Steigende Preise für Gas und Öl ziehen ebenfalls steigende Kosten für Grundlebensmittel nach sich. Ein Gros der italienischen Industrie bezieht seinen Energiebedarf aus fossilen Brennstoffen, ebenso die Produktion von Elektroenergie. Die Italiener müssen in diesem Jahr 135 Prozent mehr für Strom bezahlen als noch 2020. Die internationalen Verbraucherpreise für Gas steigen derzeit auf 321 Euro je Megawattstunde, noch vor Jahresfrist lagen sie bei 27 Euro für dieselbe Menge. Dies schlägt in erster Linie auf die Produktionskosten und die Wirtschaftskraft italienischer Unternehmen, jedoch auch auf die Endverbraucher in ihren Haushalten zurück.
Die Lage der Geringerverdienenden – vier Millionen Arbeitnehmer müssen mit einem monatlichen Salär unter 1.000 Euro vorliebnehmen – verschlechtert sich nochmals, nachdem mit Ausnahme der Bewegung 5 Sterne (M5S) alle Parteien die Rücknahme des 2019 eingeführten Grundeinkommens „Reddito di Citadinanza“ forderten. Die damalige Regierung Giuseppe Contes unter Führung von M5S hatte dieses Entgelt gerade deswegen beschlossen, um die bereits grassierende Armut einzudämmen. Nach dem Gesetz erhielt jeder Anspruchsberechtigte monatlich 780 Euro, Paare 1.280 Euro. Vor allem die Mitte-Rechts-Parteien, allen voran diesmal die Lega Matteo Salvinis, kämpfen für die Aufhebung dieses Einkommens. Stattdessen wirbt Salvini im laufenden Wahlkampf mit Steuerentlastungen vor allem um Stimmen aus der Mittelschicht.
Indes verschärft die internationale Gaskrise die Bedrohung mit Armut noch aus einer völlig neuen Richtung. Die stetig steigenden Preise für den fossilen Brennstoff bringen vor allem die energieintensive Wirtschaft wie Metallurgie, Keramik- und Glasindustrie an Existenzgrenzen. Ebenfalls betroffen sind viele metallverarbeitende Bereiche wie die Automobilbranche.
Sorge vor der Rezession
Unternehmerverbände wie Confindustria einerseits und die Metallergewerkschaften der großen Verbände CGIL und CSIL machen auf die Notstände aufmerksam. Arbeitgeber und Arbeitnehmer weisen darauf hin, dass viele Firmen infolge der Energiekosten von Insolvenz und ihre Angestellten von Arbeitslosigkeit bedroht sind. Sie appellieren an die Regierung Mario Draghis, Sofortmaßnahmen zur Sicherung der Wirtschaft zu ergreifen, doch dem noch amtierenden Premier bleibt da wenig Spielraum.
Mit Blick auf den kommenden Herbst und Winter befürchten alle Beteiligten, Italien könne in eine der tiefsten Rezessionen seit Ende des Zweiten Weltkriegs rutschen, verbunden mit Massenarbeitslosigkeit und noch verstärkter Armut. Vor dem Hintergrund einer solchen Perspektive ist es auch politisch schwierig, den Rückhalt in der Bevölkerung für eine solidarische Hilfe der Ukraine aufrechtzuerhalten. Zwar hatte Italien bislang die zugesagte militärische Hilfe geleistet, doch stockt die Unterstützung derzeit bei 150 Millionen Euro. Auch humanitäre Hilfen bleiben zurzeit bei 30 Millionen Euro begrenzt. Dass sich dies bei der anhaltenden Krise in absehbarer Zeit bessern könnte, ist kaum zu erwarten. Zumindest nicht vor den Wahlen am 25. September und der sich daraus ergebenden neuen Regierungsbildung.
Europas Strompreise brechen neue Rekorde
In einer verrückten Woche für die Energiepreise in Europa haben die Großhandelsstrompreise für 2023 in Deutschland und Frankreich am Freitag neue Rekorde auf 850 Euro bzw. über 1.000 Euro pro Megawattstunde (MWh) aufgestellt. Vor einem Jahr lagen die Preise für diese beiden Länder bei etwa 85 Euro/MWh. Die Preise sind aus mehreren Gründen explodiert, angefangen damit, dass die russischen Gaslieferungen nach Europa seit Beginn des Krieges in der Ukraine versiegt sind, da viele Wärmekraftwerke Gas zur Stromerzeugung verwenden. Da Gas immer knapper wird, sind auch die Gaspreise auf Rekordniveau.
In Frankreich sind derzeit nur 24 der 56 Kernreaktoren von EDF in Betrieb, was unter anderem auf ein Korrosionsproblem zurückzuführen ist, wodurch die französische Stromproduktion auf ein historisches Tief fällt und die Preise ansteigen. Für den kommenden Dezember wird eine Megawattstunde Strom bereits für über 1.600 Euro gehandelt, ein außerordentlich hoher Wert. Die Europäische Union und die Mitgliedstaaten sind dabei, Pläne zur Energieeinsparung und zum sparsamen Umgang mit Energie umzusetzen, da mit dem nahenden Winter die Gefahr von Stromengpässen und -ausfällen steigt. (AFP)
De Maart
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können