Mittwoch5. November 2025

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StandpunktMit progressivem Föderalismus gegen richterlichen Extremismus

Standpunkt / Mit progressivem Föderalismus gegen richterlichen Extremismus
Sogar in vorwiegend republikanischen Staaten lehnt eine Mehrheit der Wähler den Eingriff des US Supreme Court in das Leben und die Privatsphäre von Frauen ab Foto: AFP

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Während der vergangenen Gerichtsperiode hat die konservative Mehrheit des US Supreme Court den Interessen und Wünschen der amerikanischen Bevölkerung in Bezug auf Abtreibungsrechte, Schusswaffenkontrolle und Klimawandel offen zuwidergehandelt. Und jetzt droht die Gerichtsmehrheit – erneut unter Missachtung der öffentlichen Meinung – mit weiteren Verfahren, um Verhütung, gleichgeschlechtliche Ehen und Wahlrechte einzuschränken. Im Entscheidungsfindungsprozess des Gerichts haben Politik und Theokratie rechtliche Zurückhaltung und Präzedenzfälle ersetzt.

Letztlich wird der Kongress neue Gesetze verabschieden müssen, um die Rechte, die der Gerichtshof außer Kraft gesetzt hat, wiederherzustellen. Freilich dürften derartige Maßnahmen angesichts der tiefen ideologischen und politischen Spaltung in beiden Häusern des Kongresses und der eine Mehrheit von 60 Prozent der Stimmen im Senat erfordernden Verfahrensregeln (das Filibuster) nur langsam vorankommen. Doch ist noch nicht alles verloren, weil die US-Bundesstaaten ihre eigenen Verfassungsbefugnisse aggressiv zur Bewahrung der Freiheiten der US-Amerikaner nutzen können. Der 10. Zusatzartikel der US-Verfassung besagt: „Die Machtbefugnisse, die von der Verfassung weder den Vereinigten Staaten übertragen noch den Einzelstaaten entzogen werden, bleiben den Einzelstaaten oder dem Volke vorbehalten.“

Im Einklang mit diesem Grundsatz arbeiten Bundesstaaten und sogar Städte oft mit der US-Bundesregierung zusammen, um nationale Politiken umzusetzen oder eigene Maßnahmen zu deren Unterstützung zu beschließen. Doch bietet der 10. Zusatzartikel Bundesstaaten und Städten zugleich die verfassungsrechtliche Grundlage, die Bundespolitik in Frage zu stellen oder sich ihr zu widersetzen. Staaten wie Kalifornien und New York und Städte wie San Francisco und Austin, Texas haben entsprechend in den letzten Jahren einen „widerständigen Föderalismus“ genutzt, um eine Politik zu verfolgen und Rechte zu schützen, die von der Mehrheit ihrer Bürger unterstützt werden.

Was die Abtreibung angeht, so hat die Regierung des Gouverneurs von Kalifornien, Gavin Newsom, Abkommen mit mehreren Bundesstaaten zur Verteidigung des Zugangs zu reproduktionsmedizinischen Leistungen unterzeichnet, die Finanzierung des Gesundheitswesens für alle Einwohner (einschließlich der undokumentierten Bevölkerung) ausgeweitet, Zuzahlungen für Abtreibungen abgeschafft und einen Verfassungszusatz eingebracht, in dem das Recht auf Abtreibung festgeschrieben ist. In ähnlicher Weise haben die Bürger des Staates Michigan in Rekordzeit mehr als 750.000 Unterschriften eingereicht, um im November einen Verfassungszusatz über die „reproduktive Freiheit für alle“ zur Abstimmung zu bringen, und die Bürger in Vermont werden über eine ähnliche Bestimmung abstimmen.

Theokratischer Extremismus

Meinungsumfragen legen nahe, dass diese Maßnahmen die Unterstützung von rund 70 Prozent der Wahlberechtigten genießen und vermutlich verabschiedet werden dürften. Und die Wahlbeteiligung dürfte auch in vielen anderen Staaten mit kontroversen Abstimmungen hoch sein. In Kansas, einem den Republikanern zuneigenden Staat, lehnten vor kurzem 59 Prozent der Bürger bei einer Wahl mit hoher Wahlbeteiligung den Entwurf eines Verfassungszusatzes ab, der ein Recht auf Abtreibung verneinte. Eine Analyse von Nate Cohn von der New York Times legt darüber hinaus nahe, dass die Wähler in „mehr als 40 der 50 Staaten“ auf dieselbe Weise abstimmen würden wie die Mehrheit in Kansas, wenn sie die Chance dazu hätten (die Ausnahmen sind einige südliche Staaten, Utah und Wyoming).

Die Wähler signalisieren, dass sie die Art von theokratischem Extremismus, die Supreme-Court-Richter Clarence Thomas durch zusätzliche neue Beschränkungen von Reproduktions- und Eheschließungsrechten zu verfolgen beabsichtigt, nicht tolerieren werden. Und dank des widerständigen Föderalismus werden Frauen in der Lage sein, auf Abtreibungen und reproduktionsmedizinische Leistungen zuzugreifen, indem sie in Staaten reisen, die diese Rechte weiterhin schützen. Tatsächlich haben viele Unternehmen bereits angekündigt, dass sie für Mitarbeiterinnen in den 22 Staaten, die entschlossen sind, Abtreibungen zu verbieten, die Reisekosten übernehmen werden.

Doch wird die Verfügbarkeit dieser Leistungen in progressiven Staaten vielen einkommensschwachen Frauen, die in ihren Wohnsitzstaaten auf Medicaid (den staatlichen Gesundheitsdienst für Bedürftige) angewiesen sind, womöglich nicht helfen. Medicaid bezahlt für 42 Prozent aller Geburten in den USA. Weil es sich dabei jedoch um eine Partnerschaft zwischen der Bundesregierung und den Bundesstaaten handelt, ist Medicaid von Finanzmitteln nicht nur des Bundes, sondern auch der jeweiligen Staaten abhängig. Von den zwölf Staaten, die die im Rahmen des Affordable Care Act (Obamacare) angebotene Medicaid-Ausweitung nicht verabschiedet haben, bieten alle nur eine begrenzte postnatale Mutter-und-Kind-Betreuung an, und sieben haben Abtreibungsverbote.

Das jüngste Urteil des Supreme Court, das die Gesetze zur Schusswaffensicherheit beschränkt, wird gleichermaßen lebensbedrohliche Folgen haben. Allein in diesem Jahr gab es bereits mehr als 300 Amokläufe mit Schusswaffen, die im gesamten Land Leben zerstört haben.

Vorreiter Kalifornien

Auch hier ist Kalifornien ein Vorreiter mit vernünftigen Maßnahmen zur Schusswaffenkontrolle, um den Schaden zu begrenzen. Seit über 20 Jahren – von den zwei Pandemie-Jahren abgesehen – ist die Quote gewaltsamer Vorfälle mit Schusswaffen in Kalifornien konsequent gefallen, was dem Staat eine der niedrigsten Raten schusswaffenbedingter Todesfälle im Land verschafft hat. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand durch eine Schussverletzung stirbt, ist in Kalifornien niedriger als fast überall sonst in den USA, und die, bei einem Amoklauf ums Leben zu kommen, ist um 25 Prozent geringer. Diese Zahlen sind die unmittelbare Folge von gesetzgeberischen Maßnahmen – u. a. Verboten von Angriffswaffen, Red-Flag-Gesetzen, langen Wartezeiten für Schusswaffenkäufe, allgemeinen Hintergrundüberprüfungen, Meldungen von Personen mit psychischen Problemen und Altersbeschränkungen –, die seit Anfang der 1990er Jahre die Zahl der durch Schusswaffen getöteten Personen halbiert haben.

Selbst in Staaten wie Texas werden viele dieser Maßnahmen von einer Bevölkerungsmehrheit unterstützt. Wie in der Frage der reproduktiven Rechte hat sich auch bei diesem Thema gezeigt, dass der Gerichtshof an der Mehrheit der amerikanischen Bürger vorbei agiert. Die Antwort besteht darin, jene brachliegenden Befugnisse, die die US-Verfassung den Bundesstaaten und den Bürgern gewährt, zu nutzen – so wie eine neue Graswurzelbewegung eines progressiven Föderalismus das bereits tut.

Die erste „progressive Ära“ Anfang des 20. Jahrhunderts brachte eine Vielzahl politischer und wirtschaftlicher Reformen hervor, die Regierung und Behörden auf allen Ebenen ehrlicher, demokratischer und effektiver dabei machten, allen Bürgern Chancen zu eröffnen. Ihre übergreifenden Ziele waren die Stärkung der demokratischen Institutionen der USA und die breitere Verteilung der durch den wirtschaftlichen Fortschritt erzielten Gewinne. Dieselben Ziele stoßen auch heute bei den meisten Amerikanern auf Widerhall – selbst bei jenen, die Misstrauen gegenüber der US-Bundesregierung empfinden, aber weiterhin darauf vertrauen, dass die Vertreter von Bundesstaaten und Kommunen ihren Interessen dienen.

Der Supreme Court lässt den Amerikanern keine andere Wahl. In einem Bundesstaat nach dem anderen bahnt sich inzwischen eine neue Ära des progressiven Föderalismus an.

* Laura Tyson war Vorsitzende des wirtschaftlichen Beraterstabs von US-Präsident Bill Clinton und ist Professorin an der Haas School of Business der University of California in Berkeley sowie Mitglied des Beirats der Angeleno Group. Lenny Mendonca ist Senior Partner emeritus von McKinsey & Company. Er war leitender Wirtschaftsberater des kalifornischen Gouverneurs Gavin Newsom of California und Vorsitzender der California High-Speed Rail Authority.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Copyright: Project Syndicate, 2022. www.project-syndicate.org