Polen rätselt über Tod von „Wojtek“

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Von unserem Korrespondenten Paul Flückiger

Kurz vor dem EuGH-Urteil über die Abholzpläne der Regierung bewegt ein Wisent aus dem Bialowieza-Urwald die Polen.

War es Kummer oder Kohl? Noch immer rätselt ganz Polen um das jähe Hinscheiden von Wisent „Wojtek“. Im Internet kursierten immer neue Filme über seine Besuche im Weiler Budy am Rande des Bialowieza-Urwalds. Sie zeigen den von Einheimischen mit dem Kosenamen „Wojtek“ (übersetzt: klein Adalbert) eingedeckten Wisent beim seelenruhigen Spaziergang auf der nächtlichen Dorfstraße oder dem Versuch, dem Inhalt eines Mülleimers genauer auf die Spur zu kommen. Etwas ungelenk sind die Anstalten des Wildtieres, doch vor Menschen oder deren Autos fürchtet er sich offenkundig nicht.

Doch nun ist „Wojek“ tot. Er sei leblos unweit des Dorfes Topilo entdeckt worden, gab die Nationalparkverwaltung bekannt. „Wisent Wojtek ist ein paar Tage nach seinem Fang und Abtransport verendet“, berichtete Rafal Kowalczyk von Säugetier-Institut der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN) auf Facebook. Sofort wurden online Kerzen für „Wojtek“ angezündet. Auf lokalen Internetportalen berichteten Einheimische berichteten über ihre letzten Begegnungen mit dem Wisent, Zoologen kritisierten das Auslegen von Futter für Urwaldbewohner wie ihn.

Ein Wisent ist keine Kuh, die man streicheln kann

„Ein Wisent ist keine Kuh, die man streicheln kann, bevor sie den Kopf hebt und vor der man noch schnell wegrennen kann“, warnte Mitte März Katarzyna Daleszczyk in einer Lokalzeitung. Das Füttern würde „Wojtek“ verderben und sei gefährlich für beide Seiten. Zweimal fing die Parkleitung deshalb den Wisent ein und verfrachtete ihn zurück in den Urwald. „Wojtek“ aber fand den Weiler Budy mit seinen freundlichen Einwohnern bereits nach wenigen Tagen wieder. Das förderte seinen Kultstatus und lockte Touristen mit vollen Essensbeuteln an.

„Wojtek“ ist der bekannteste Wisent im Bialowieza-Urwald an der Grenze zu Weißrussland. Rund 560 dieser urtümlichen Säugetiere finden sich derzeit auf der polnischen Seite des Nationalparks noch in freier Wildbahn. Unwesentlich weniger leben auf der weißrussischen Seite des Unesco-Weltkulturerbes. Bialwieza gilt als letztes Rückzugsgebiet für Europas größten Säuger. Besuchen können sie sich nicht, denn noch immer trennt den Urwald ein 1981 aus Angst vor einem Export der Solidarnosc-Bewegung von den Sowjets gezogener Stacheldrahtzaun.

Abholzmenge verdreifacht

Der Bialowieza-Urwald sorgt dieser Tage allerdings nicht nur wegen seiner Wisente für Schlagzeilen. Nach dem Wahlsieg der Rechtspopulisten im Herbst 2015 hatte nämlich der frühere Umweltminister Jan Szyszko, ein Vertreter der eisernen ultra-katholischen Wählerschicht, die zugelassene Abholzmenge kurzerhand verdreifacht. Begründet hatte er dies mit einer Borkenkäferplage, die auch die lokale Bevölkerung bedrohe.

Etwas mehr als die Hälfte des von Polen beim EU-Beitritt in dieser Region selbst als geschützt deklarierten Waldes wurde so für schwere Abholzmaschinen freigegeben. Davon nicht betroffen ist die die von Menschenhand möglichst unberührte „Zone Null“. Dort fühlen sich deshalb auch die meisten Wisente am sichersten. Auf der Futtersuche jedoch gelangen sie auch in die umliegenden Wälder, denn der Nationalpark ist für sie zu klein.

Die Kaczynski-Regierung setzte sich in der Folge über einen vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) verfügten sofortigen Holzschlagstopp hinweg und lenkte erst ein, nachdem im Dezember eine EU-Strafgebühr von 100.000 Euro pro Abholztag verhängt wurde. Seit einem Ministerwechsel im Januar wird immerhin der EU-Abholzungsstopp bis zu dem per 17. April erwarteten EuGH-Urteil eingehalten. Doch Ökologen warnen bereits vor neuen Abholzplänen für die Zeit nach dem Urteil. „Bialowieza sieht inzwischen aus wie ein Schweizer Käse“, warnte Greenpeace-Direktor Robert Cyglicki. Umweltschützer streben deshalb eine Ausweitung des Urwald-Nationalparks an.

„Wojtek“ der Friedensstifter

Die wenigen Tausend Einwohner rund um den letzten Urwald Europas leben vom Tourismus oder der Holzwirtschaft. Entlang dieser Linie sind auch die Meinungen über Abholzgenehmigungen gespalten. Geradezu als Friedenstifter erwies sich hier der Wisent „Wojtek“. In seiner Wahlheimat, dem Weiler Budy, vereinte er Ökos und Holzfäller. Alle stellten ihm nicht nur Heu vor ihre Häuser, sondern auch Essensreste wie Rote Bete (Randen), Karotten und Kohl.

„Die Fütterung mit in der Gegend beliebtem Kohl oder anderem Gemüse ist schädlich“, erklärte Zoologe Kowalczyk im Gespräch mit dieser Zeitung. Statt zutrauliche Wisente wie „Wojtek“ zu füttern, sollten die Einwohner sofort die Parkleitung anrufen oder solche Wildtiere so früh wie möglich gleich selbst vertreiben, riet er. „Eine Salve Gummigeschosse, wie es in den USA praktiziert wird, ist für den Wisent allemal gesünder als der spätere Fang und Abtransport unter Zwang“, sagte Kowalczyk.

Als Todesursache kommen neben dem Transportstress und Altersbeschwerden eine Reihe weiterer Faktoren infrage. Wegen der fortgeschrittenen Verwesung sei jedoch keine Sektion des seltenen Säugers vorgenommen worden, bereut der im Dorf Bialowieza stationierte Forscher. „Wisent Wojtek ist wohl aus Kummer gestorben“, vermutet ein Onlineportal. Ob es um den leckeren Kohl oder die Sehnsucht nach den freundlichen Menschen ging, führte das Portal nicht aus.