Sonntag9. November 2025

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Dessous-Revolte in Buenos Aires

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Von unserem Korrespondenten Guenther Bading

In Buenos Aires brennen die Büstenhalter. Eine Schuldirektorin hat die 18-jährige Bianca nach Hause geschickt, weil sie keinen Büstenhalter trug. Die Aufregung ist gewaltig,
vor dem Schulministerium wurde protestiert.

Vor dem Palacio Pizzurno im Zentrum von Buenos Aires wurden an diesem milden Spätsommerabend seltsame Flugobjekte gesichtet. Sie wurden aus einer Gruppe Hunderter junger Frauen in Richtung Bildungsministerium geschleudert, das in dem historischen Gebäude seinen Sitz hat. Wer nicht aufpasste, bekam eines der Flugstücke ab und wunderte sich: Es waren Büstenhalter, groß und klein, bunt, geblümt oder im Tiger-Look. Viele der guten Stücke wurden gar öffentlich verbrannt.

Kein BH? Ab nach Hause!

Schülerinnen, Studentinnen und eine Frauenrechtsgruppe hatten zu einer Demonstration unter dem Motto „corpiñazo“ eingeladen. Ein corpiño ist ein Büstenhalter. Anlass des Dessous-Aufstands war die Maßregelung der 18-jährigen Bianca S. durch die sittenstrenge Direktorin ihrer Schule im Stadtteil Villa Urquiza, einem ganz normalen Wohnviertel der argentinischen Hauptstadt. Auch wenn nach dem Kalender auf der Südhalbkugel schon Herbst ist, genießt man am Rio de la Plata derzeit noch warme Spätsommertage. Und entsprechend kam Bianca in einem Sommerkleidchen ins „Colegio“, ihre Schule. Ein normales Kleid, ohne tiefen Ausschnitt, aber mit dünnen Spaghettiträgern, die der Direktorin zeigten, dass die Schülerin der Abschlussklasse keinen Büstenhalter darunter trug. Sie schickte Bianca nach Hause, um eine Jacke zu holen und sich so züchtig zu verhüllen. Sie müsse einen „sostén“ tragen – ein uraltes Wort, das heute niemand mehr sagt und das man in etwa mit „Leibchen“ übersetzen könnte.

Bianca sah das nicht ein, rief ihre Mutter an und die die Direktorin. Die Inhaberin der Weisungsmacht in ihrer Schule ließ sich auf deren Protest nicht ein und schickte Bianca nach Hause. Auch am nächsten Tag, als sie mit blauem Rollkragenpulli kam, aber ohne BH darunter. Sie trage so etwas nie, sagte sie den inzwischen angerückten Reportern. Denn der Rückfall ins sittenstrenge vergangene Jahrhundert wurde rasch zum Gesprächs- und Medienthema in der quirligen und modernen Millionenstadt. Bianca ist alles andere als eine Sexbombe, mittelgroß, etwas dicklich und mit einer Oberweite ausgestattet, die maximal Körbchengröße B eines „corpiño“ fordern würde, wenn sie denn einen trüge.

Bisher nur Regeln für Jungs

Die „Frauen des Mutterlandes Lateinamerika“ – „Mujeres de la Matria Latinoamerica“, abgekürzt MuMaLa – griffen ein und organisierten die Demo vor dem Bildungspalast. Zuvor schon hatten Schüler in vielen Colegios selbstgemalte Plakate an die Wände geklebt mit Aufschriften wie „Mein Büstenhalter sagt nichts über meine Intelligenz“ oder „Meine Kleidung bestimmt nicht, ob ich ein guter Schüler bin“.

Biancas Mutter Ariadna machte in Fernsehinterviews ihrer Empörung über den Rückschritt aus einer modernen Gesellschaft in die Vergangenheit Luft. Bianca zeigte sich erschrocken über den Wirbel, den der Vorfall ausgelöst hatte, und MuMaLa-Sprecherin Raquel Vivanco donnerte in die ihr vorgehaltenen Mikrofone: „Statt junge Mädchen zu bestrafen, sollten Schulen das Gesetz über integrierte Sexualerziehung anwenden, um Respekt und Gleichberechtigung zu fördern und damit geschlechtsspezifische Gewalt zu verhindern.“ Und in der Schule Reconquista in Villa Urquiza denkt man jetzt, so berichten Insider, über die Neuordnung der Kleidervorschrift nach. Denn die gibt es bisher nur für Jungs, denen im Sommer knappe Shorts oder bunte Bermudas verboten sind.

CESHA
28. April 2018 - 9.14

Argentinien ist anscheinend im Jahre 1968 der europäischen Zeitrechnung angekommen.