Paradoxe Entwicklung

Paradoxe Entwicklung
(Alain Rischard/editpress)

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Zur Rolle der Nationalstaaten in Nahost und im Westen

Die Entwicklungen könnten nicht gegenläufiger sein: Während die Grenzen im Nahen Osten immer poröser werden, verstecken sich mehrere Staaten im Westen wieder hinter ihren nationalstaatlichen Grenzen. Allerdings wäre die plastische Gegenüberstellung zu einfach. Auch innerhalb dieser jeweiligen Entwicklungen entstehen widersprüchliche Konstrukte. Blicken wir zunächst Richtung Nahost.

Die künstlichen Grenzziehungen, die den aktuellen Nahen Osten und seine Nationalstaaten formten, konnten vor dem „Arabischen Frühling“ nur durch autoritäre und mit Brutalität waltende Diktatoren aufrechterhalten werden. Zu willkürlich und sinnlos war die Zusammensetzung von Ethnien und Religionen in den jeweils künstlichen Staaten, als dass sie friedlich hätten leben können. Spätestens seit der Irak-Invasion im Jahr 2003 durch die USA und der Libyen-Intervention 2011 stehen die nationalstaatlichen Grenzen im Nahen Osten jedoch unter Druck oder lösen sich teilweise auf. Die Territorien werden zu Kriegszeiten neu aufgeteilt. Im Falle Syriens mischen Staaten, Milizen und Terrororganisationen fleißig mit. Die ausgehandelte Waffenruhe ist immer wieder brüchig, der in Astana von Russland vorgeschlagene Verfassungsentwurf obsolet. Besonders interessant und von der weiten Öffentlichkeit ignoriert: Syriens territoriale Einheit als ein multinationaler, säkularer und demokratischer Staat wurde von Moskau vorgeschlagen – jedoch bestand Russland nicht auf das Arabische in „Arabische Republik Syrien“.

Dass dies im Gegensatz zu so manchem amerikanischen, französischen oder britischen Vorschlag weitsichtig ist, findet sich derweil nirgendwo in den Schlagzeilen. Dies ist bedauernswert. Denn die alleinige Tatsache, dass der russische Verfassungsentwurf das „Arabische“ aus dem Namen streichen will, ist immerhin der vorsichtige Versuch, sinnlose Grenzziehungen ein wenig aufzuweichen und der kulturellen Vielfalt Rechnung zu tragen. Der Entwurf versucht gerade die in dem syrischen Nationalstaat existierende Diversität besser zu schützen. Dies ist besonders für die staatenlose Minderheit der Kurden interessant, die seit Jahren den syrischen Bürgerkrieg ausnutzt, um sich ihr eigenes Territorium über die türkische, syrische und irakische Grenze hinweg aufzubauen. Das nordsyrische Rojava ist das aktuellste Beispiel. Es hat jedoch auch nationalstaatliche Züge. Die autonome Region Kurdistan im Ostirak funktioniert bereits seit längerem ohne größere Probleme und ist seit jeher ein westlicher Alliierter. Dass die Amerikaner sich bei der Befreiung der IS-Hochburg Rakka nun für die syrischen Kurden entschieden haben, spricht Bände darüber, welchen Einfluss Kurdistan künftig in der Region haben könnte – und wie sinnlos die Grenzziehungen sind.

Blickt man wiederum nach Europa und auf seine Institutionen sowie die längst überwunden geglaubten Territorialkämpfe, so bleibt nur eine ernüchternde Erkenntnis: Der supranationale institutionelle Aufbau mit der Privilegierung des Europäischen Rats sprich der Nationalstaaten und das politische Klima deuten darauf hin, dass zurzeit ein Teil Europas die Flucht nach hinten sucht – zurück in die Nationalstaatlichkeit.