Bei einem Treffen in der Bar seines Hotels überzeugte uns György Konrád, dass es um die EU gar nicht so schlimm steht, wie es uns manche Politiker glauben machen wollen. Der Grund: Die Wörter von „Großmäulern“ seien irrelevant für die EU.
Tageblatt: Auf die Frage Ihres Schriftstellerkollegen, des Israelis Amos Oz, worin Ihr Judentum denn bestehe, wenn es sich dabei weder um eine Religion noch um eine traditionelle Gemeinschaft handele, haben Sie ein ganzes Buch geschrieben. Gibt es keine kurze Antwort?
György Konrád: „Das Judentum besteht für mich daraus, nicht vergessen zu können. In meinem Gehirn arbeitet es ständig. Selbst in Werken von jüdischen Autoren, in denen nicht einmal das Wort Jude vorkommt, ist dieses ’Nicht-Vergessen-Können’ präsent. Ich habe noch nie einen Juden getroffen, der die Vergangenheit vergessen konnte. Sie ist auch im Bewusstsein der Kinder und der Enkelkinder. Wenn sie in Briefen und Papieren lesen, die sie von ihren Großeltern oder Eltern geerbt haben, dann stoßen sie plötzlich auf einen Namen. Und mit ihm auf eine unerklärte Todesgeschichte. Ein Tod ohne Datum. Ein weiterer Mord. Man kann nichts vergessen, was zu einem gehört. Es wäre, als würden wir unsere Körperteile abschneiden.“
Schon 1991 haben Sie die ungarische Bürgerrechtsbewegung „Demokratische Charta“ als Reaktion auf den zunehmenden Rassismus, Chauvinismus und Antisemitismus mitbegründet. Was empfinden Sie, wenn Sie die Entwicklung Ungarns bis heute und vor allem seit der Führung Viktor Orbáns beobachten? Resignation oder Kampfeslust?
„Kampf? Ich schreibe. Ich kämpfe nicht. Und ich bin oft als Landesverräter beschimpft worden. Das war früher so, das ist heute wieder so und das wird auch in Zukunft weiter passieren. Natürlich freue ich mich darüber nicht. Aber ich lasse diese Wörter in meine Ohren hinein und sofort wieder hinauslaufen. Das Wort gehört wohl mittlerweile zu mir. Doch natürlich schreibe ich weiter. Ich möchte die Menschen dazu einladen, sich Gedanken zu machen, die ich mir auch mache. Ich schreibe aus dem Wunsch heraus, dass sich eine Gedankengemeinschaft bildet, die sich mit umtriebigen Fragen beschäftigt.“
Glauben Sie an eine Gedankengemeinschaft?
„Ja, daran glaube ich. Wenn Sie mich fragen, was mein Volk ist, dann würde ich antworten: meine Leser. Oder zumindest ein großer Teil von ihnen.“
Amos Oz hat Sie auch gefragt, wie man nach Auschwitz überhaupt noch in Europa leben kann. ’Nie wieder Auschwitz, nie wieder Krieg’ ist eines der Mantras der Gründerväter der Europäischen Union. Glauben Sie auch an die EU als Gedankengemeinschaft?
„Ja. Ich glaube an die EU. Und ich mag die EU. Dieses ganze Gejammer heute und diese düsteren Perspektiven, die gerne gezeichnet werden, sind nichts weiter als gesellschaftliche Floskeln.“
Und die ganzen Renationalisierungsprozesse, die man quer über den Kontinent beobachten kann?
„Es handelt sich hierbei um eine parallele, kontroverse Tendenz. Wenn es Integration gibt, dann gibt es auch immer Desintegration. In einer Aufklärungsperiode gibt es auch immer eine romantische Antwort darauf. Ich lebe in Budapest und im Sommer in einem kleinen Dorf am Fuße des Sankt-Georg-Bergs. Die Weine dort sind sehr gut. Stehe ich dort mit den Bewohnern des Dorfes in der Kneipe am Tresen, dann schimpfen sie auf die Leute aus dem Nachbardorf. Und wirklich nicht sehr nett. Doch das ist menschlich.“
Und diese menschliche Angst oder zumindest Skepsis gegenüber dem „Fremden“ steht der EU nicht im Weg?
„Nein. Doch die EU gibt auch den Politikern die Möglichkeit, diese, auch ihre Lieblingstätigkeit auszuüben: Sie schimpfen auch gerne über ihre Nachbarn. Sie drücken auch ihre nationalpatriotischen Gefühle aus. Doch es besteht kein Risiko. Es ist sicher, dass sie keine militärischen Maßnahmen ergreifen werden. Sie sind nur Großmäuler. Großmäuler sind ungefährlich. Wörter sind irrelevant.“
Sind unsere europäischen Politiker Großmäuler?
„Ich denke, es gibt sehr wenige europäische Politiker. Es gibt viele Politiker in Europa. Aber das sind nationalstaatliche Politiker. Sehr wenige von ihnen haben ein breites Bewusstsein und eine vielschichtige Art, zu denken. Doch es gab ja schon große Politiker, die die Notwendigkeit der Europäischen Union verstanden haben. Und es wird auch wieder welche geben. Davon bin ich überzeugt.“
Wie stellen Sie sich das Europa der Zukunft vor?
„Europa wird weiterleben. Mit Schwierigkeiten. Aber es wird weiterleben.“
Welche Rolle spielen Intellektuelle, Künstler und Schriftsteller für Europa?
„Für Künstler ist es immer besser, auf mehreren Füßen zu stehen. Sonst sind sie zu abhängig von ihrem Nationalstaat. Denn ein Nationalstaat mit nationalistischem Gedankengut frisst seine Künstler auf. Deshalb braucht die europäische Politik unbedingt politische Kontrollmechanismen, eine Art ’democracy watch’. Ein Land mit neofaschistischen Entwicklungen sollte nicht in der EU gehalten werden.“
Spielen Sie auf Ungarn an?
„Auch. Ja. Die EU ist auf politischer Ebene nicht streng genug. Sie darf nicht nur auf ökonomischer Ebene ein Verbund sein, sondern muss es auch auf politischer Ebene werden. Doch so langsam fangen wir ja an, zu begreifen, dass die EU ohne starken kulturellen Austausch und Beziehungsnetzwerke unmöglich ist. Es ist keine haltbare These für ein geeintes Europa, die Kultur lokal regeln zu wollen. So wie in Deutschland, wo die Kulturpolitik in die Kompetenzen der Länder fällt. Und es ist unmöglich, dass gerade einmal ein Tausendstel des europäischen Budgets in die gemeinsame Kultur fließt.“
Und trotzdem sind Sie ein optimistischer Europäer – trotz diesem Tausendstel, trotz der Renationalisierungsprozesse, trotz der Großmäuler …
„Wie idiotisch war der Eiserne Vorhang? Und wie leicht und nah die Möglichkeit eines Dritten Weltkrieges? Es mutet heute wie surrealistisches Geplapper an, wenn man daran zurückdenkt, dass der wirklich nicht geniale Ronald Reagan damals mit Gorbatschow irgendwo in Reykjavik den Rückzug beschloss. Das war eine normale menschliche Idee. Ich glaube an normale menschliche Ideen. Und die EU ist auch so eine normale menschliche Idee.“
De Maart
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