Würde bis zum Schluss: Vor 75 Jahren erhoben sich die Juden in Warschau

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Polen hat an den Aufstand im Warschauer Ghetto vor 75 Jahren erinnert – als "Aufstand von Menschen, die ihre Würde bis zum Schluss behalten wollten".

Polen hat an den Aufstand im Warschauer Ghetto vor 75 Jahren erinnert. „Es war ein Aufstand von Menschen, die ihre Würde bis zum Schluss behalten wollten“, sagte Präsident Andrzej Duda am Donnerstag bei der Zentralen Gedenkfeier vor dem Ehrenmal für die Ghetto-Kämpfer in Warschau. Am Mittag heulten in der ganzen Stadt die Sirenen. Freiwillige verteilten gelbe Osterglocken aus Papier, die an den Judenstern erinnerten.

Am 19. April 1943 hatte die Rebellion jüdischer Aufständischer begonnen, die sich gegen SS-Einheiten wehrten. Der fast einmonatige Kampf gegen die überlegenen Deutschen scheiterte am 16. Mai 1943. Seine blutige Niederschlagung besiegelte das Schicksal der meisten bis dahin überlebenden Warschauer Juden, die vor dem Krieg ein Drittel der Bevölkerung gestellt hatten. Tausende wurden erschossen oder in die Todeslager deportiert.

An der Warschauer Zeremonie mit dem Motto „Die Erinnerung eint uns“ nahm auch Israels Botschafterin Anna Azari teil. Allerdings war die Debatte um das umstrittene Holocaust-Gesetz von Polens Regierenden auch am Jahrestag Thema. Die Vorschrift hatte eine diplomatische Krise zwischen Polen und Israel ausgelöst. Sie sieht Geld- und Haftstrafen für diejenigen vor, die dem polnischen Staat oder Volk die Verantwortung oder Mitverantwortung für Verbrechen des Nazi-Regimes zuschreiben. Kritiker bemängeln, die Warschauer Regierung wolle damit von Polen begangene Verbrechen vertuschen.

Duda verteidigte in seiner Ansprache indirekt das Gesetz: Wäre von der Verantwortung oder Mitverantwortung des polnischen Staates am Holocaust die Rede, würde damit auch die Erinnerung an jene polnischen Juden verletzt, die im Kampf gegen die Nazis starben, sagte er.

 

Synagoge ist auch wieder da – zumindest virtuell

Die vor 75 Jahren von den Nazis in die Luft gesprengte Große Synagoge von Warschau steht anlässliches des Jahrestags auch wieder im Zentrum der Stadt. Der Gesang ihres einstigen Kantors Gershon Sirota hallt durch die Straßen. Allerdings nur für kurze Zeit: Zum Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto bringt die Künstlerin Gabi von Seltmann die Synagoge als Multimedia-Projektion an ihren früheren Standort zurück.

Heute steht an der Stelle des jüdischen Gebetshauses ein fast 30-stöckiges Glashochhaus. In seinen Fenstern spiegelt sich nun die Synagoge und zieht die Blicke neugieriger Passanten auf sich.

„Viele Menschen wissen gar nicht mehr, dass hier einst die Synagoge stand“, sagt von Seltmann, die das ändern wollte. Ihr Projekt entstand in Zusammenarbeit mit der sich gegen Antisemitismus engagierenden Organisation „Offene Republik“ und mehreren jüdischen Institutionen Warschaus. „Deswegen haben wir die Synagoge aus Archivmaterial wiederaufgebaut“, sagt die Künstlerin.

Für die virtuelle Rekonstruktion verwendete sie auch Fotos der Ruinen. Während der knapp sechsminütigen Projektion richtet sich das Gebäude aus dem Schutt wieder auf. „Es ist ein Projekt, das die Erinnerung wiederherbringen soll an den Ort und an die jüdische Gemeinschaft.“

Fast eine halbe Million Juden aus Warschau und Umgebung wurden während des Zweiten Weltkriegs im größten Ghetto der Nazis für die jüdische Bevölkerung eingesperrt. Es gab nur wenige Überlebende. Viele Menschen starben bereits in dem überfüllten Ghetto an Hunger oder Epidemien. Tausende wurden erschossen oder von den Nazis in Vernichtungslager deportiert.

Verzweifelt versuchten etwa 750 jüdische Aufständische schließlich, sich gegen die massenhafte Deportation in die NS-Todeslager zu wehren. Am 19. April 1943 fielen die ersten Schüsse ihrer Rebellion, die als Symbol des jüdischen Widerstands in die Geschichte einging. Die jungen Männer und Frauen wollten lieber mit Würde und im Kampf statt in den Lagern sterben. Nach fast einem Monat scheiterten sie, die Deutschen waren zahlenmäßig weit überlegen.

Nach der blutigen Niederschlagung des Widerstands wurde die Synagoge auf Befehl von SS-Gruppenführer Jürgen Stroop zerstört. Zur symbolträchtigen Sprengung schrieb er am 16. Mai 1943 in seinem Tagesbericht: „Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk Warschau mehr.“ Doch der Kampfgeist der jüdischen Aufständischen wurde bereits während der Krieges über die Grenzen Polens hinaus bekannt.

75 Jahre später verteilen mehr als tausend Freiwillige in der ganzen Stadt gelbe Osterglocken aus Papier, die an den Judenstern erinnern. Marek Edelman, der letzte überlebende Anführer des Aufstands, legte sie jedes Jahr bis zu seinem Tod 2009 vor dem Denkmal der Ghetto-Kämpfer nieder. „Wir verneigen uns tief vor ihrem Heldentum, Kampfgeist und Mut“, sagt Polens Präsident Andrzej Duda bei der zentralen Gedenkfeier vor dem Ehrenmal der Ghetto-Kämpfer.

Zwar findet die Zermonie unter dem Motto „Die Erinnerung eint uns“ mit Israels Botschafterin Anna Azari statt, doch der schwelende Streit zwischen den Regierenden beider Länder ist auch am Jahrestag zu spüren. Grund ist ein umstrittenes Holocaust-Gesetz der polnischen Regierung. Es sieht strenge Strafen, sogar Haft, für diejenigen vor, die dem polnischen Staat oder Volk eine Verantwortung oder Mitverantwortung für Verbrechen des Nazi-Regimes zuschreiben.

„Wenn jemand von der Verantwortung oder Mitverantwortung des polnischen Staates beim Holocaust spricht, verletzt er nicht nur die Polen, sondern auch Juden, polnische Bürger“, sagt Duda bei der Gedenkfeier. Schließlich seien jüdische Polen im Kampf gegen die Nazis gefallen.

Ronald Lauder, Präsident des Jüdischen Weltkongresses (WJC), spricht auf einer Gedenkveranstaltung anlässlich des 75. Jahrestages zum Aufstand im Warschauer Ghetto.

Kritiker sehen von der neuen Regelung die Redefreiheit bedroht. Holocaust-Überlebende würden gehindert, von negativen Erfahrungen mit Polen zu erzählen, bemängeln sie. Die Warschauer Regierung wolle damit von Polen begangene Verbrechen vertuschen.

Von Seltmann, deren Großvater in Auschwitz starb, will mit ihrem Projekt ein positives Zeichen setzen. Obwohl die Synagoge nur an einigen Abenden wieder an ihrem alten Standort erscheinen wird, will die Polin ihre Landsleute langfristig bewegen. „Das Projekt soll berühren. Ich hoffe, dass dadurch bei den Menschen ein Gefühl geweckt wird, das für länger bleibt.“