Industriegeschichte am Bahnhofsviertel: Champagner made in Luxembourg

Industriegeschichte am Bahnhofsviertel: Champagner made in Luxembourg

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Das Postgebäude am Bahnhof gehört der Vergangenheit an. Ein Neubau wird dort errichtet, dessen Pläne im Rahmen eines Architekturwettbewerbs entworfen wurden. 2022 soll er fertiggestellt sein. Neugierige werden sich indes fragen, weshalb hier die Straßen die Namen Epernay, Reims und Mercier tragen.

Von Robert L. Philippart

Die „Fabrique de Champagne E. Mercier & Cie“ aus Epernay bei Reims hatte 1885 auf Fetschenhof das als permanentes Fort im Jahre 1836 errichtete Fort du Moulin vom Eigentümer, dem Tierarzt Dr. Siegen aus Clausen, gemietet, um hier ihre luxemburgische Niederlassung anzusiedeln. Sie bestätigte den Willen der einheimischen Regierung, Luxemburg anhand ausländischen Kapitals zu entwickeln. Der Zollverein bot dazu eine gute Gelegenheit, insbesondere da sich ab 1871 durch den Anschluss des Elsass und Lothringens ans Deutsche Reich das Geschäftsgebiet in unmittelbarer Nähe des Großherzogtums wesentlich erweiterte. Die Regierung hatte Beamten den Auftrag erteilt, in der internationalen Presse Anzeigen ausländischer Unternehmen ausfindig zu machen, die Ausschau nach neuen Produktionsstandorten hielten.

Diese offensive Vorgehensweise bestätigt eine Entwicklungspolitik, die ehemaliges, inzwischen wertloses Festungs-Areal durch neue wirtschaftliche Projekte ertragreich nutzen wollte. Auch inländische Unternehmen konnten Festungsgräben, Forts und Kasernen als Produktionsgelände nutzen.

Strategischer Standort

Die Wahl des Standorts gegenüber dem Bahnhof ermöglichte eine schnelle Abfertigung des Transports. Zweck der Niederlassung der Champagnerfabrik Eugène Merciers war, den in Luxemburg aus französischen Weinen produzierten Champagner bedeutend billiger in den Gebieten der Zollunion zu verkaufen, als es die französischen Firmen mit ihren in Frankreich hergestellten Produkten tun konnten. Das ehemalige Festungsgelände des Fort Wedell wurde zum Industriegebiet der Hauptstadt. Die „Forges et laminoirs de Luxembourg“ hatten bereits 1870 hier ihre Produktion aufgenommen. 1873 ließ sich die Straßenbahngesellschaft am zur Stadtseite gelegenen Teil des Fort Wedell nieder.

1883 zog der Eisenbetten-Hersteller Berl von der Reiter-Kaserne im Pfaffenthal ebenfalls zum Bahnhof. Auch der Hersteller von Fässern, Unternehmer Thierry Ruckert, hatte sich hier niedergelassen. Die Champagnerfabrik verfügte zudem über einen eigenen Bahnanschluss. Vor der Anlage befanden sich die Gleisanlagen der Schmalspurbahnen nach Remich (Jangeli/1882) und Echternach (Charly/1904). Champagne Mercier beschäftigte im Jahr 1889 132 Mitarbeiter, von der Belegschaft waren 26 Prozent Frauen. Im Jahr 1894 wurden 35.000 bis 40.000 Flaschen pro Tag abgefüllt, wobei 7 bis 10 Waggons pro Tag mit Fässern geladen ins Gebiet der Zollunion fuhren. Bis zu 1,2 Millionen Flaschen wurden 1905 jährlich gefüllt.

3 Franken pro Tag

Um den großen Bedarf an Weiden, die zur Herstellung von Versandkörben benötigt wurden, zu decken, wurden 1895 eigene Weidenanlagen im Mamertal bei Kopstal angelegt. Heute befindet sich hier das „Centre d’acceuil et solidarité Oseraie“ der Caritas. Die Korbflechterei und die Flechterei des Staatsgefängnisses stellten die Champagnerkörbe her. Die Mitarbeiter der Kellerei am Bahnhof wohnten in Privathäusern, der Unternehmer hatte keine Wohneinheiten für das Personal vorgesehen. Die Löhne blieben auch eher karg: 1889 verdiente ein Mitarbeiter im Schnitt 3 Franken pro Tag, wohingegen damals ein Maurergeselle für öffentliche Arbeiten bis zu 4 Franken 75 cts erhalten konnte. In den Abteilungen Flaschenspülung und Etikettierung waren vorwiegend Frauen eingestellt.

Geschäftsführer Edgar Cossé hatte einen eigenen Feuerwehrdienst ins Leben gerufen. Die Musikkapelle „Harmonie Mercier“ und der Radsportverein „Cyclistes Mercier“ sollten den Teamgeist unter den zeitweilig bis zu 200 Mitarbeitern fördern.

Eine der großen Sehenswürdigkeiten

Im April 1886 starteten die Arbeiten den Bau der großen und tiefen Keller der „Compagnie des Grands vins de Champagne, union des propriétaires, fondée en 1858 E. Mercier & Cie à Epernay“ auf dem Gelände der ehemaligen „forges et laminoirs“ am Bahnhof. 1892 hatte Architekt Pierre Kemp die schlossähnliche Fassade zur Seite des Bahnhofs entworfen. Er hatte ebenfalls die Anlage des Tabakunternehmens Heintz van Landewyck in der Hollericher Straße gezeichnet. Hinter der historisierenden Fassade der Champagnerfabrik versteckten sich moderne Produktionshallen. Stahlsäulen erlaubten das Anlegen großer lichtdurchfluteter Räume, welche nicht durch Trennwände geteilt werden mussten. Die Struktur bestand weitgehend aus einem teils robusten, teils fein verarbeiteten Stahlkorsett, das im Innenbereich der Produktionsstätten völlig sichtbar war. Der Bau war Zeugnis modernsten industriellen Könnens in Luxemburg.

1908 beschreibt Charles Limpach die 22 unterschiedlichen Keller, die, 97 Stufen tief, in die Felsen unter der Fabrik gesprengt worden waren, als eine der größten Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt, mit bis zu 35.000 Besuchern pro Jahr. Dies erklärt vielleicht, weshalb das Bild anlässlich des „Congrès international du tourisme“ 1898 eben bei Mercier aufgenommen wurde.

Rückzug aus dem Stadtbild

Die Auflösung des Zollvereins und die Einführung der Wirtschaftsunion mit Belgien (1921) führten zum Zusammenbruch des Absatzmarktes von Champagne Mercier. Die Produktion wurde allmählich heruntergefahren. 1921 beschäftigte das Unternehmen nur noch 41 Arbeiter, darunter 9 Mitarbeiterinnen. 1930 öffneten sich für 2.000 Zuschauer die Hallen für die Europameisterschaft im Gewichtestemmen. 1937 wurde die rue d’Epernay angelegt. Die hier ansässige und an Mercier grenzende Firma Berl zog damals nach Cessingen. Nach der Schließung der Produktionsstätten Merciers wurden die Räumlichkeiten 1942 an einen Grossisten, dann an das Café Rond-Point, das Autohaus Pauly Champagne, den Wein-und Spirituosenhandel Kieffer-Schmit sowie an einen Friseursalon vermietet.

1960 wurden die Anlagen an den Staat verkauft, der hier den Bau eines Postamtes plante. Am 10. Januar 1964 wurde das Gesetzesprojekt zur Errichtung dieses Gebäudes angenommen. Am 1. September 1964 erfolgte der Abriss der ehemaligen Mercier-Anlage. 1965 begann der Bau des modernistischen, im Stahlkorsett entworfenen Postamtes nach den Plänen der Architekten Pierre Reuter und René Welter.

1980 wurde im Komplex des Postgebäudes das „Postmuseum“ eröffnet. Das an der Ecke der rue d’Epernay befindliche und ans Postamt stoßende Geschäftshaus für Auto-, Fahrrad-, Eisenwaren- und Industrieprodukte „Accinauto“ war 1948 nach den Plänen des Architekten Michel Wolff entstanden. 1985, nach Schließung dieses Unternehmens, kaufte der Staat dieses Grundstück. 1990 wurde es für die Aufnahme einiger Dienststellen des Postamtes umgebaut. 2017 zogen die Postverwaltung und die Schalterstelle am Bahnhof in das neu errichtete Gebäude „Mercier“ in der rue de Reims. Kurz darauf erfolgte der Abriss des Postgebäudes am Bahnhofsvorplatz. Die Außenhülle des seit 2015 denkmalgeschützten „Accinauto“ mit den Flachreliefs des Bildhauers Auguste Trémont an der Fassade bleibt erhalten und wird in den neuen Baukomplex eingefügt.