Herr Chanel und die „Euro-Indianer“ vom Rio Oiapoque

Herr Chanel und die „Euro-Indianer“ vom Rio Oiapoque

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Tief im Amazonasgebiet gibt es einen der ungewöhnlichsten Grenzposten der Welt. Brasilien und die EU trennt hier nur ein Fluss. Indigenas bringen Kinder auf der europäischen Seite zur Welt, um Kindergeld aus Frankreich zu beziehen. Das ist aber Kern eines größeren Problems.

Von Georg Ismar (Text) und Autumn Sonnichsen (Fotos), dpa

Der Händedruck sucht seinesgleichen. Als der Kommandant der Fremdenlegion wieder loslässt, ist man froh, dass nichts gebrochen ist. Bei ihm ist die Sicherung der europäischen Grenze, im tiefsten Regenwald in Südamerika, sicher in guten Händen.

Zwei Meter groß, die blonden Haare kurz geschoren, russischer Akzent. Seine Herkunft will er nicht preisgeben, er sei nun Franzose, hier im Dschungeleinsatz. Am Bootsanleger steht: „Legio Patria Nostra“ – „Die Legion ist unser Vaterland.“ 30 Soldaten der französischen Fremdenlegion sind hier stationiert, um im Auftrag Frankreichs die ungewöhnlichste europäische Außengrenze zu sichern. Der Rio Oiapoque ist die Trennlinie zwischen Brasilien und Französisch-Guayana, dem Überseegebiet Frankreichs und damit auch die Grenze zur EU.

Isoliert, aber schön

Es ist ein isolierter Ort von bezaubernder Schönheit. Gerade morgens, wenn der Nebel über das Wasser zieht, die Tierwelt erwacht, die Sonne durch die grünen Baumriesen blinzelt. Und ein Ort der Gegensätze: Der Rasen im Camp der Legion ist fein getrimmt. Es gibt Stromleitungen, während auf der anderen Flussseite des Rio Oiapoque, in Brasilien, Generatoren höchstens für ein paar Stunden am Tag Strom liefern.

Das Mobilfunknetz ist auf beiden Seiten ein französisches – mit einem europäischen Handy fallen keine Roaminggebühren an, man ist ja in der EU. Der Oiapoque bildet auch die Grenze zum brasilianischen Nationalpark Tumucumaque, einem der größten Regenwald-Schutzgebiete.

Er hat fast die Ausmaße der Niederlande und ist seit Jahrhunderten Heimat von ein paar Hundert Wayapi-Ureinwohnern. Der Biologe Otto Schulz-Kampfhenkel hatte hier für das Nazi-Regime von 1935 bis 1937 eine geheimnisumwitterte Expedition geleitet – angeblich suchten sie im Urwald auch einen Brückenkopf für eine mögliche Landung in Südamerika. Das blieb eine Utopie, einige Mitglieder starben an Gelbfieber, aber die detailgenauen Karten der Expedition verblüffen bis heute. Schulz-Kampfhenkel schrieb darüber das Buch „Rätsel der Urwaldhölle“, der gleichnamige UFA-Film kam 1938 in die Kinos.

Camopi, ein Dorf im Regenwald

Auf der Seite Brasiliens sind zum Schutz des Regenwaldes Siedlungen eigentlich verboten, aber dank des französischen Dorfes Camopi, wo die Fremdenlegion stationiert ist, gibt es eine kleine Siedlung, Vila Brasil. Die meisten der 90 Häuschen und Holzbaracken wurden aber errichtet, bevor der Tumucumaque 2002 zum Nationalpark erklärt wurde.

Ein Indio vom Stamm der Wayapi zahlt in einem Geschäft in Vila Brasil (Brasilien) mit Euro. Aus dem Dorf Camopi auf der anderen Seite in Französisch-Guayana kommen die Menschen zum Haare schneiden und Einkaufen her, der Euro ist hier das offizielle Zahlungsmittel.

Dort gibt es viel laute Musik, Freiluft-Friseure, Alkoholläden in Bretterbuden, Kneipen und Bordelle. Warum, wird nach und nach klar. Acht Stunden braucht das Boot den Rio Oiapoque hinunter, um zum abgelegensten Außenposten der EU zu gelangen. Immer wieder heißt es aussteigen: sonst ist es zu schwer, um Stromschnellen hochzufahren.

Mariejeanne will nach Cayenne

Im Boot werden transportiert: Kisten voll Fisch, Bier, Brot, Mais, Kartoffeln, manchmal auch ein Schwein. Es zirpt, grüne Urwaldriesen so weit das Auge reicht. Affen sind zu hören, der Motor tuckert den Oiapoque hinunter. Auch die 16 Jahre alte Wayapi Mariejeanne macht immer wieder die beschwerliche Reise. Sie träumt davon, nach der Schule in einem Restaurant in Cayenne zu arbeiten, der Hauptstadt Französisch-Guayanas. Sie berichtet von den großen Alkoholproblemen.

Die 16 Jahre alte Mariejeanne (l) vom Stamm der Wayapi-Indigenas steht mit ihrer Mutter am Rio Oiapoque, der Brasilien von Französisch-Guayana trennt

„Einige fangen schon mit 13 an, zu trinken“, sagt sie, sie wohnt auf der französischen Seite. Sie wirkt nachdenklich, traurig ihr Blick, in Pausen legt sie sich in die Stromschnellen und lässt das Wasser an sich vorbeirauschen. Sie rühre keinen Alkohol an. Als Grund für den Alkoholismus unter den Wayapi gilt auch das französische Kindergeld.

Der Bürgermeister von Camopi

Um darüber mehr zu erfahren, ist Joseph Chanel der richtige Ansprechpartner. Er ist der Bürgermeister von Camopi und an diesem Tag nur bis 12.00 Uhr zu sprechen. Denn es ist ein Sonntag – ab mittags will er Cachaça, Zuckerrohrschnaps, trinken. Eigentlich heißt er Joseph Chandet, aber die Franzosen verstanden irgendetwas falsch oder dachten an das Parfüm, so wurde er im Pass zu Joseph Chanel.

Der Bürgermeister des Regenwald-Dorfes Camopi, Joseph Chanel, liegt in seiner Hängematte. Er ist vom Stamm der Wayapi-Indios.

Er liegt in einer Hängematte, die Lesebrille baumelt auf der nackten Brust, er trägt nur einen Lendenschurz aus rotem Stoff. Am Arm hat er eine Golduhr. Wenn man so will, ist er der Chef der „Euro-Indianer“.

„Ich bin hier geboren und werde hier sterben“, sagt Chanel. Die hier seit Jahrhunderten lebenden Wayapi sind Wanderer zwischen den Welten, sie kennen keine Grenzen. Aus der Hängematte kann Chanel über den Rio Oiapoque rüber nach Brasilien schauen. Der größte Unterschied: Er liegt in einer Hängematte in der Europäischen Union. Nirgendwo hat Frankreich eine längere Grenze als hier, 730 Kilometer mit Brasilien.

Seit 1992 ist er mit Unterbrechungen der Bürgermeister. Rund 800 der 1.800 Bewohner in Campoi sind Indigenas. Nicht wenige stammen von der brasilianischen Seite, sie kamen, damit die Frauen hier ihre Kinder zur Welt bringen. „Es gibt 400 bis 1.200 Euro an Kindergeld, je nach Alter und Anzahl“, erzählt Chanel. Hinzu kommen weitere Sozialhilfen.

Problemfaktor: Alkohol

Das Geld wird oft in Alkohol auf der anderen Seite im günstigeren Vila Brasil investiert, oder auch in Benzin und Diesel – in der Gegend sind viele Goldsucher aktiv, die Sprit für die Motoren und Diesel für Stromgeneratoren brauchen. Eine bizarre Amazonas-Ökonomie.

Wayapi sind abends in Vila Brasil an Tischen mit Dutzenden geleerten Bierdosen zu sehen, hindämmernd, die Kinder spielen auf der Erde. Unisono wird von hohen Selbstmordraten unter den Wayapi berichtet.

Der 300-Einwohner-Ort ist der einzige im 207-Millionen-Einwohner-Land Brasilien, wo der Euro das Zahlungsmittel ist. „Oft kommen sie von Brasilien auch nur rüber, um sich hier in unserem Gesundheitsposten behandeln zu lassen, da fehlen dann Medikamente für die Franzosen“, klagt Chanel. Das Alkoholproblem habe bereits mehrere Präsidenten beschäftigt, betont Chanel – einmal wurde sogar Nicolas Sarkozy per Hubschrauber eingeflogen. Er schenkte dem Dorf einen Motor für ein Boot. Der Motor wurde laut Berichten später von der Polizei an einem Boot entdeckt, das massenhaft Benzin für die Goldgräber schmuggelte.

Macron besuchte Französisch-Guayana

Im Oktober war auch Präsident Emmanuel Macron in Französisch-Guayana. Schon mehrfach gab es Überlegungen, das Kindergeld in Camopi nicht mehr auszuzahlen, sondern per Zahlkarte an bestimmte Sachleistungen und Lebensmittel zu koppeln. „Aber passiert ist bisher nichts“, sagt Chanel. Er erhebt sich aus der Hängematte, läuft in blau-weißen Badenschlappen und seinem roten Schurz rüber zum Holzhaus, es steht auf Pfählen, zum Schutz gegen Hochwasser. Seine beiden Enkelkinder kommen angerannt, sein ganzer Stolz. Ob sie später bleiben werden?

Nirgendwo hat die Europäische Union einen Ort wie diesen. Es gibt einen Gendarmerie-Posten, auf der Theke stehen Gläser mit eingelegten Schlangen. Draußen springt in einem Gehege ein Äffchen umher, das die Polizei vor dem Grill bewahrt hat, Affenfleisch ist begehrt. Und auf der Wiese steht ein halbes Boot, senkrecht aufgestellt, im Bug hängt oben eine Karte mit Einschusslöchern – der Schießstand der Polizei.

Der französische Polizist Bruno Piecieri steht am Eingang des Gendarmeriepostens im Amazonas-Dorf Camopi in Französisch-Guayana. Das größte Problem stellen Drogenschmuggler und illegale Goldgräber dar, alle paar Monate wird gewechselt, die Polizisten kommen aus Frankreich.

Ein Gendarm klagt, bei Verbrechen flüchten die Täter über den Fluss, dann sind sie in Brasilien und er machtlos. Hier gibt es keine Passkontrollen, die Indigenas pendeln zwischen Südamerika und EU.

Eine Lehrerin aus Südfrankreich

Jemand, der sich gerade um die Situation der Wayapi stark sorgt, ist die Leiterin der Grundschule. Marianne Mayet sucht hier in Camopi vor dem Ruhestand noch einmal das Abenteuer. Sie stammt aus Südfrankreich. Eine elegante Frau mit viel Grandezza, immer im schicken Kleid, mit pinkfarbener Brille. Auch am Ende der Welt gelte es, Stil und Ordnung vorzuleben. Sie tischt gegrillten Fisch auf.

Die Französin Marianne Mayet fährt mit einem Boot den Rio Oiapoque, der Brasilien von Französisch-Guayana trennt, herunter. Sie leitet die Grundschule in einem der abgelegensten Orte der Europäischen Union, Camopi in Französisch-Guayana.

Durch die ganzen illegalen Goldminen im Umkreis dieser binationalen Siedlung Camopi/Vila Brasil gibt es eine erhöhte Quecksilberbelastung in den Gewässern, das Gold wird damit gefördert. „Es ist eine ökologische Katastrophe“, sagt sie. Aber trotzdem wolle sie auf Fisch hier nicht verzichten. „Sterben tun wir irgendwann sowieso.“

Sie fragt sich mit Blick auf die Indigenas, „ob die Schule gut für sie ist“. Diese wurde 2013 mit der zunehmenden Kinderzahl gegründet, heute gibt es 270 Schüler. Letztlich handele es sich aber um eine Art Kolonisierungskonzept. Camopi sei der Versuch, die als Nomaden lebenden Wayapi sesshaft zu machen. „Sie verlieren ihre Kultur, ihre Sprache, verlernen das Töpfern und Jagen.“ Eigentlich hätten sie ein sehr reiches Universum, erzählen ihre Träume, sie leben mit dem Wald.

Sie haben auch ihr eigenes Zahlenverständnis. „Es gibt bei ihnen nur 1,2,3 – und ganz viele.“ Aber es sei schwierig, Lehrer zu bekommen, die auf Wayapi unterrichten können – der einzige sei weggegangen. Bürgermeister Chanel sei ein Kritiker des Schulkonzepts, das zu wenig auf die indigenen Traditionen Rücksicht nehme, alles läuft auf Französisch. Aber auch so ist es schwer, Lehrer zu finden, seit drei Jahren wird etwa ein Englischlehrer für die Urwaldschule gesucht.

Depressiv wirkende Szenerie

Die Indigenas werden hier zwar zu französischen Staatsbürgern, können mit Frankreich aber gar nichts anfangen. In Vila Brasil werden sie vor allem als Einnahmequelle gesehen, oft werden Wucherpreise für Bier und Schnaps verlangt. Mitunter wirkt die Szenerie depressiv.

In Vila Brasil hoffen sie angesichts des einmaligen Grenzpostens darauf, dass ein kleiner Öko-Tourismus entstehen könnte. Gerade wenn die Sozialhilfen von drüben nicht mehr wie bisher ausgezahlt und hier in Alkohol und Essen reinvestiert werden sollten. Weit her aus Manaus und Macapá sind einige Händler hierhin tief in den Dschungel gezogen, weil sich herumgesprochen hat, dass gute Geschäfte locken.

Unterschiedliche Mentalitäten

Es gibt neben einer kleinen grün-blauen Holzkirche eine Pension mit Namen Belvedere, hier können Gäste morgens vom Balkon den Söldnern der Fremdenlegion beim Stählen der Körper auf der anderen Flussseite zuschauen. Es sind zwei Welten. In Vila Brasil ist alles etwas unsortierter. Und es gibt unterschiedliche Mentalitäten. Das zeigt der Posten der brasilianischen Armee, das „Comando de Fronteira“.

Der Kommandant kommt persönlich zum Bootsanleger am Rio Oiapoque – und hier sind die Soldaten anders als bei der Fremdenlegion äußerst redselig. Mehrere haben einen Spezialkurs „Guerra na Selva“, „Krieg im Dschungel“, absolviert. Das Kampftraining ist etwas ungewöhnlich. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, zu wessen Gunsten hier eine Konfrontation der beiden Staaten ausgehen dürfte, auch wenn die Brasilianer ein paar mehr Soldaten am Grenzfluss stationiert haben.

Am Anlegen liegen drei Patrouillenboote. Der Kommandant erzählt von der Vorliebe für Grillabende. Ein Soldat schlägt derweil mit einem Vorschlaghammer auf einen Lkw-Reifen ein, ein anderer wuchtet einen Reifen immer weiter vorwärts über die Wiese, die meisten der anderen Soldaten spielen Fußball. Der Kommandant trägt einen Dolch mit goldenem Jaguarkopf. „Das größte Problem ist die Logistik, wir müssen alles per Boot herbringen“, klagt der Mann, der aber anonym bleiben will. Probleme mit der Fremdenlegion auf der gegenüberliegenden Flussseite gebe es nicht. „Frankreich ist ja ein befreundeter Staat.“

Das größte Problem hier sind die Diebstähle von Motorbooten – und die illegalen Goldgräber. Auf die Frage, warum sie nicht Drohnen einsetzen, um die oberirdischen Gruben zu finden, wo Gold gefördert wird, sagt er: „Die haben wir leider nicht, wir bekommen manchmal Tipps. Aber bis wir uns zu den Banditen durchgeschlagen haben, sind die schon weg.“ Ob man denn selbst mal eine Drohne fliegen lassen könne, um beide Seiten der Grenze zu fotografieren. „Kein Problem“, sagt ein Soldat. Der Kommandant der Fremdenlegion hätte wohl die Drohne bei so einer Frage persönlich mit seinen Händen zerquetscht.

René Charles
10. Januar 2018 - 17.59

Wann Frankräich näischt zu engem besseren Liewen an hirer Kolonie kann bäidroen soll ët d'Saach opgin an déi Lännereien den Ur-Awunner zeréckgin. Schon an hiren Kolonien an Nord-Afrika ( Algerien, Marokko, Tunesien) hun se no der Ausbeutung nàischt hannerlooss wat déi Länner haut kéinten besser liewen doen, weder a Saachen Politik, nach Schoul, Hygiene, Handwierk asw. 10 000den lafen durch d'Welt als Wirtschafts-Migranten. Wat huet den Här Macron wëlles zu deenen Zoustänn (als Wiedergutmachung) 'en marche ' ze setzen? (An där Saach sin d'Englänner kee Fatz besser)

Leonie
10. Januar 2018 - 17.05

Eng interessant lektür,oni verdréihung a beschass. Vieleicht besschen lang.kent an zwee oggedeelt gin