Estland, die smarte Republik: 99 Prozent aller staatlichen Leistungen sind digital verfügbar

Estland, die smarte Republik: 99 Prozent aller staatlichen Leistungen sind digital verfügbar

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Die digitale Zukunft wird nicht nur im Silicon Valley geschmiedet. Auch das kleine europäische Estland nimmt eine Vorreiterrolle in dem Bereich ein. Satte 99 Prozent aller staatlichen Leistungen können hier bequem von zu Hause vom Sofa aus erledigt werden. Der Beobachter aus Luxemburg kann nur staunen.

Wenn Victoria aus Estland erkältet ist, dann ist sie nicht gezwungen, durch Regen und Kälte zu ihrem Arzt zu laufen, um ein Rezept gegen den Schnupfen zu erhalten. Sie kann bei ihrem Arzt anrufen und das Problem erklären. Stimmt dieser zu, dass Victoria eine verschreibungspflichtige Medizin gegen Schnupfen benötigt, so stellt er ihr das Rezept aus. Er tut dies jedoch nicht auf Papier, sondern im Internet.

Wenn Victoria später zur Apotheke geht, dann schauen die dortigen Mitarbeiter sich ihre ID-Karte an, gehen ins Internet … und wissen, welches Medikament der Arzt ihr verschrieben hat. Dank dem digitalen Rezept ist Victoria schnell wieder zu Hause. In Estland werden heute 99 Prozent aller Rezepte digital geschrieben.

Hausaufgaben über eine App

Ein Beispiel aus dem Bildungswesen: Die Kommunikation zwischen Lehrpersonal aus den Schulen und den Eltern der Schüler gestaltet sich nicht immer einfach. Estland setzt daher auf eine App. Mittels ihrem Smartphone können Eltern nachsehen, welche Hausaufgaben die Kinder für morgen zu erledigen haben – und welche Noten das Kind bisher bekommen hat. Ein Aufgabenheftchen, wie früher, ist heute in Estland überflüssig – zumindest bei den 85 Prozent der Schulen, die bisher an das System angeschlossen sind.

Doch damit nicht genug. „Estland will die Digitalisierung des Schulsystems weiter vorantreiben“, so Sandra Särav, Global Affairs Director im für die Digitalisierung zuständigen CIO Office. „Bis 2020 sollen alle Schulbücher digital verfügbar sein. Die Vorteile liegen auf der Hand: Die Schüler müssen keinen schweren Schulsack mehr tragen – und alle Bücher können den Kindern kostenfrei zur Verfügung gestellt werden.“

Dass Estland heute digitaler Vorreiter in Europa ist, ist kein Zufall. Als die Sowjetunion auseinanderbrach, erhielt das Land mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern 1991 seine Unabhängigkeit zurück. Das junge Estland hatte wenig Geld, musste aber eine staatliche Verwaltung komplett neu aufbauen. Aus Gründen der Effizienz und der Kosten setzte man schnell auf Computer und auf digitale Lösungen.

3.001 digitale Dienstleistungen

Die erste digitale Dienstleistung, die der Staat seinen Bürgern anbot, war die Steuererklärung, im Jahr 2000. Mittlerweile werden in Estland 95 Prozent aller Steuererklärungen elektronisch eingereicht. Attraktiv für den Bürger ist das System auch dadurch, dass eine ganze Reihe Daten (auf die der Staat sowieso Zugriff hat) bereits im Vorfeld in das Formular eingetragen sind. Der ganze Prozess des Überprüfens der Daten sowie das Einreichen der Erklärung bei der zuständigen Behörde sollen im Schnitt innerhalb von drei bis fünf Minuten erledigt sein.

Noch im gleichen Jahr folgte m-parking: Ein System, das es ermöglicht, auf (privaten und öffentlichen) Parkplätzen mit dem Smartphone zu bezahlen. Im Jahr danach folgte das Bevölkerungs-Register. Ist der Geburtsschein einmal registriert, dann kann man ihn je mit nur einem Knopfdruck für eine andere Behörde freigeben. „Es gilt das Prinzip, dass man keine Daten zweimal eingeben muss“, so die Estin.

Jede Behörde (oder auch Unternehmen) hat ihre eigene Datenbasis. Mit einem System namens „X-Road“ können die Datenbasen untereinander Daten austauschen. „Insgesamt bietet der Staat 3.001 digitale Dienstleistungen an“, so Sandra Särav.

Das Kernstück des Erfolgs von E-Estonia folgte im Jahr 2002. Es ist die estische Identitätskarte – jeder ist verpflichtet, eine zu haben. Sie ist anerkanntes Reisedokument und gleichzeitig, wenn man sie in ein Lesegerät einfügt und einen PIN-Code eingibt, der Schlüssel nach E-Estonia (www.eesti.ee). Mit der ID-Karte kann der Nutzer Dokumente digital unterzeichnen, ohne das Wohnzimmer zu verlassen. Die elektronische Unterschrift ist, auch seit 2002, rechtswirksam.

Um das System kundenfreundlicher zu gestalten, und da nicht immer ein Card-Reader verfügbar ist, wurde 2007 die Möglichkeit der mobilen ID (über Smartphone) hinzugefügt. Damit ist selbst die moderne ID-Karte mit Chip überflüssig. Wie bereits zuvor der Führerschein – die Polizei kann über die ID kontrollieren, ob der Fahrer eine Fahrerlaubnis hat. Bei der Idee einer ID-Karte mit Chip haben sich die Esten bei ihrem Nachbar Finnland inspiriert. „Man muss das Rad nicht immer wieder neu erfinden“, so Särav.

Mitgetragen zum Erfolg von E-Estonia hat ironischerweise auch ein Hackerangriff aus dem Jahr 2007. Die Denial-of-Service-Angriffe hielten mehrere Wochen an und richteten sich gegen Websites von Regierung, Parlament sowie verschiedener Medien und Finanzinstitute. Viele Internetdienste fielen zeitweilig aus.

Hackerangriff stärkt Sicherheitsbewusstsein

Mit der erlebten Verwundbarkeit erhöhte sich der bereits bestehende Fokus auf die Sicherheit noch weiter. „Wir kennen uns aus mit Cyber-Angriffen“, scherzte Sandra Särav – ohne wirklich zu scherzen. Regelmäßig werden Hacker-Attacken simuliert und es wird trainiert. Estland hat eine aus freiwilligen Bürgern bestehende „Cyber Defence Unit.“ Eine Art Blockchain wird zur Verschlüsselung der Daten genutzt. Das „NATO Cooperative Cyber Defence Centre of Excellence“ wurde hier angesiedelt. Die einzelnen dezentralen Datenbasen können im Notfall abgeschaltet werden. Eine Kopie der Daten wird außerhalb des Landes, in einem Luxemburger Datenzentrum, gespeichert.

Diese sogenannte Daten-Botschaft ist dann auch der Grund, warum Sandra Särav letzte Woche Keynote-Speakerin bei den Luxembourg Internet Days war. „Luxemburg und Estland sind digitale Verbündete“, erklärt sie. „Zusammen haben wir etwas Neues aufgebaut, das es bisher in internationalem Recht nicht gab.“ Die in einem Luxemburger Datenzentrum gespeicherten Daten aus Estland genießen den gleichen diplomatischen Schutz wie eine Botschaft. Das hat Luxemburg Estland zugesichert.

„Mit dem Back-up in Luxemburg kann unser Land selbst nach einer Naturkatastrophe oder einer Besetzung durch Panzer weiterfunktionieren“, so Sandra Särav. „Selbst wenn wir alle in Australien sitzen.“ Das Projekt hat bereits leichte Verspätung. „Zum Ende dieses Jahres soll es live gehen.“ Einmal pro Monat sollen die Daten dann hierzulande gespeichert werden. Von Estand heraus soll es nicht möglich sein, sie zu verändern. In einer zweiten Phase sollen die Daten in Direktzeit gespeichert werden – und auch abrufbar werden. Langfristig will Estland weitere Daten-Botschaften in anderen Weltregionen aufbauen.

Back-up des Systems in Luxemburg

Luxemburg wurde als Standort für die Daten gewählt, „da es hier hoch gesicherte Datenzentren gibt und Diskussionen einfach waren“, so Särav gegenüber dem Tageblatt. „Im Datenzentrum mieten wir einen Raum und zahlen Miete.“ Einen Mitarbeiter einzustellen ist nicht vorgesehen. Beim Luxemburger Unternehmen, das die Daten beherbergt, wird gehofft, dass Estland nur der erste von vielen zukünftigen Kunden dieser Art ist. Immerhin gibt es noch viele

kleine Länder, wo Naturkatastrophen zuschlagen können – oder die große Nachbarn haben, war bei dem Unternehmen zu hören. Doch zurück nach Estland. Bereits seit 2005 kann hier online gewählt werden. Das bedeutet nicht, dass man sich in ein Wahllokal zu einer elektronischen Wahlmaschine begibt – in Estland benutzt man seine ID und gibt seine Stimmen dann von Zuhause aus ab. Etwa ein Drittel der Wähler hatte sich 2014 für diese Möglichkeit entschieden, die auch im Ausland lebende Esten nutzen können.

Das alles funktioniert jedoch nur, wenn die Bürger dem System vertrauen, also wenn der Schutz der persönlichen Daten gewährleistet ist. Und da lege man viel Wert drauf, unterstreicht Särav. „Ich besitze meine Daten. Es gilt immer das Prinzip, dass nur der auf die Daten zugreifen darf, der auch eine Berechtigung hat.“ Zudem sei es nicht möglich, Daten zu verändern oder abzufragen, ohne dass der Betroffene es merkt, so Särav weiter. „Alles hinterlässt einen digitalen Fußabdruck.“ Abgesehen wohl von den Aktivitäten der Geheimdienste.

Einige Polizisten und Ärzte wurden verklagt

Einige Polizisten und Ärzte wurden bereits verklagt und haben ihren Job verloren, erklärt die Estin weiter. Der ehemalige Bürgermeister der Hauptstadt Tallinn beispielsweise hatte geklagt, nachdem seine Krankenakte (nach einer Operation) an die Öffentlichkeit gelangt war. Mehrere Ärzte hatten sich seine digitale Krankenakte angeschaut. „Drei von ihnen hatten keine Berechtigung und ihre Lizenz wurde entzogen. Das muss auch so sein. Sonst gibt es kein Vertrauen.“

In Zukunft will Estland jedoch nicht stehen bleiben. „Aktuell arbeiten wir viel in Richtung künstliche Intelligenz. Etwa um bei der Geburt gleich alle möglichen Dienste (Kindergeld, Grundschule, …) automatisch aufgelistet zu bekommen. Oder um Arbeitslose mit Stellenangeboten zu verknüpfen. Alle 3.001 Dienstleistungen sind übrigens auch physisch in den Büros der Verwaltung möglich.

Die drei Dienste, die nicht digital abgewickelt werden können, sind: Immobilienkauf, Hochzeit und Scheidung. Das sind die „high risk transactions“, begründet Särav dies mit einem Schmunzeln.


Digitale Staatsbürgerschaft

Schlagzeilen machte das kleinste der drei baltischen Ländern im Jahr 2014 mit der Einführung der e-Residency für nicht-Landesbürger. Für nur 100 Euro kann fast jeder e-Bürger in Estland werden. Dann erhält er eine ID-Karte und Zugang zu E-Estland.
Etwa 40.000 neue Staatsbürger aus 160 Ländern hat Estland seitdem angezogen, so Sandra Särav. Die meisten kommen aus dem Nachbarland Finland, gefolgt von Russland, Großbritannien, Deutschland, USA und Japan. Auch Luxemburgs Premierminister Xavier Bettel zählt zu den neuen e-Bürgern Estlands. Er ist in der Gesellschaft der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und des japanischen Premierministers Shinzo Abe. Insgesamt 33 Luxemburger haben bisher einen Antrag für die virtuelle Staatsbürgerschaft gestellt. Damit liegt das Großherzogtum auf Platz 81, nach Malta und vor Peru.

Wirklicher Einwohner des Landes wird der virtuelle Staatsbürger aber nicht. Er darf nicht wählen und erhält keine Aufenthaltsgenehmigung. Er darf aber – und es ist sogar gewünscht – auf diesem digitalen Weg ein Unternehmen in Estland gründen. Rund 5.000 wurden bisher gegründet.

Die Besteuerung ist unternehmensfreundlich. Es gilt eine „flat tax“ von 20 Prozent. Gewinne, die im Land reinvestiert werden, sind steuerfrei. Ein neues Steuerparadies werde Estland aber nicht, so Sandra Särav. Jedes Unternehmen müsse mindestens einen Mitarbeiter haben. Zudem mache man sehr gründliche Backgroundchecks über die Antragssteller. Praktisch jeder fünfte sei bisher abgelehnt worden.

Zum Thema: Das Editorial von Christian Muller

Zwei Länder und die Digitalisierung: Träumen oder machen

J.C.KEMP
23. November 2018 - 17.17

In Tallinn gab es bereits 2002 gratis öffentliches Internet., wo bei uns noch oft Einwählmodems gebraucht wurden.