Ein Leben im Ausnahmezustand: Wohnen unter Neonazis

Ein Leben im Ausnahmezustand: Wohnen unter Neonazis
In das Dorf führt eine einzige Straße, die áuch herausführt. Foto: Wiebke Trapp

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Demokratie und Menschenrechte sind keine Selbstverständlichkeiten. Sie müssen täglich aufs Neue verteidigt werden. In den Reden zum 30. Jahrestag des Mauerfalls wurde gerade wieder daran erinnert. Die Lohmeyers leben das. Sie wohnen unter Neonazis.

Wälder, Wiesen und Seen prägen das Hinterland Mecklenburgs. Das knapp 40 Einwohner zählende Dorf Jamel ist eines von vielen kleinen Dörfern in der ländlichen Gegend unweit der Ostseeküste. Eine einzige Straße führt hinaus und hinein und macht einen Kreis um ein Dutzend Häuser herum. Ansonsten gibt es viel Grün, Ruhe und Abgeschiedenheit. Ein junger Vater mit seinem Kind grüßt vom Fahrrad aus zurück. Könnte schön sein. Das denken sich Birgit (61) und Horst Lohmeyer (63), als sie 2004 das leer stehende Forsthaus im Dorf kaufen. Sie kommen aus Hamburg und machen von West nach Ost „rüber“.

Nach 15 Jahren in St. Pauli haben sie das Großstadtleben satt und suchen einen Alterssitz. „Wir hatten das Gefühl, sämtliche Geschichten, die sich zwischen Menschen abspielen können, von unserem Küchenfenster aus schon beobachtet zu haben“, sagt Birgit Lohmeyer. Das naturverbundene Paar zieht es auf das Land. Im Speckgürtel von Hamburg findet sich nichts Bezahlbares, Mecklenburg kennen sie von Urlauben.

Sie und ihr Mann sind seit jeher selbstständig, arbeiten kreativ und künstlerisch. Er, gelernter Handwerker, macht Musik. Sie schreibt Bücher, hält Vorträge und gibt Seminare. Die Einliegerwohnung in dem Forsthaus ist schon saniert. Der damals über 80-jährige Vater von Birgit kann miteinziehen. „Das war uns wichtig“, sagt die Tochter. Die Idylle scheint perfekt.

Ein paar Dinge stören die Idylle

Wären da nicht die in Sichtweite auffällig auf einem Haus gehisste Flagge des Deutschen Reichs, die in Dritte-Reich-Optik bemalte Hauswand davor und ein Wegweiser, der unter anderem die Entfernung bis zu Hitlers Geburtsort Braunau misst. Und wäre da nicht das Gefühl, dass Fremde hinter verschlossenen Fenstern und Türen beobachtet werden. Die „Dekoration“ gehört zum Anwesen des Abrissunternehmers Sven Krüger (45), der aus Jamel stammt und aus seiner politischen Überzeugung keinen Hehl macht. Die bekannte NPD-Größe verbüßt mehrere Haftstrafen. Die Liste reicht von Körperverletzung über Hehlerei bis zum Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz.

Aufgeklärte, urbane Menschen wie die Lohmeyers passen da nicht ins Bild. Die Hamburger wissen beim Kauf von ihrem neuen Nachbarn, lassen sich aber nicht abschrecken. In St. Pauli war die Nachbarschaft auch nicht immer einfach und er ist einer von damals vielleicht 30 Bewohnern des Dorfes. Was sie nicht ahnen, ist, dass er nach 2004 immer mehr „Gesinnungsgenossen“ im Dorf ansiedeln wird.

Häuser stehen leer, Menschen ziehen weg und Krüger kauft systematisch auf. Einige der Neuankömmlinge arbeiten anschließend in seinem Abrissunternehmen, erzählt Birgit Lohmeyer. Der Mann gilt allgemein als hilfsbereit. „Den kannst du immer anrufen, wenn du was brauchst, der kommt“, erzählen die Leute sich über ihn. Die Gefälligkeiten, die als Kameradschaft verkauft werden, haben System. „Jamel – ein Dorf in rechter Hand“ titelt das regionale Blatt nach dem Besuch von Abgeordneten des Schweriner Landtags.

Neonazi sitzt im Gemeinderat

Beschimpfungen wie „Boah, hier stinkt’s“, wenn sich beide Parteien in Geschäften begegnen, gehören zum Alltag der Lohmeyers. In den Anfangsjahren gab es auch schon mal Plakate mit der Aufschrift „Verpisst euch“. Das ist vorbei, der Umgangston ist neuerdings moderater. Sven Krüger ist mittlerweile Gemeindepolitiker. Aus dem Stand holt er mit der kurz zuvor gegründeten „Wählergruppe Heimat“ knappe 20 Prozent bei den Kommunalwahlen 2019. Birgit Lohmeyer kandidiert für die SPD. „Nette 37 Stimmen habe ich bei 2.100 Wahlberechtigten bekommen“, sagt sie.

Im ersten Jahr in Jamel leben sie mit dem Gefühl, allein gelassen zu sein. Eine Insel der Demokratie auf ihrem Hof und rundherum wachsende nationalistische Ödnis. Widerstandsgeist wächst. Sie wollen dagegenhalten – am liebsten mit Kultur. „Wir wollten denen schon zeigen, ihr seid hier nicht im rechtsfreien Raum und könnt machen, was ihr wollt“, sagt Birgit. Die lokale Bevölkerung kommt ihnen eingeschüchtert vor. 2007 findet die erste Auflage von „Jamel rockt den Förster“ in ihrem Garten auf der großen Wiese hinter dem Forsthaus statt. 1.500 Besucher, mehr kann das Festivalgelände nicht fassen, kommen seitdem jedes Jahr. Die nur online angebotenen Tickets sind oftmals innerhalb weniger Stunden verkauft. Für manche sind es zu viele, die Musik mit einer politischen Aussage verbinden wollen.

Eine brennende Scheune und die Toten Hosen

2015 brennt eineinhalb Wochen vor dem Festival die alte Scheune auf dem Gelände der Lohmeyers bis auf die Grundmauern ab. Ursprünglich sollte daraus mal eine „Kulturscheune“ entstehen. Ein Feriengast macht die Eigentümer nachts darauf aufmerksam. Seitdem vermieten sie die Einliegerwohnung in ihrem Haus nicht mehr an Gäste – „zu gefährlich“. In dem Jahr aber haben sie neben dem Festivalstress noch mehr zu tun. Sie beseitigen die Brandruine rechtzeitig vor Beginn und stemmen gleichzeitig den Überraschungsbesuch etablierter Rockgrößen. Die Toten Hosen erfahren aus den Medien von Jamel, den Lohmeyers und dem Brand. Sie kommen und treten auf. 2018 bekommen die Lohmeyers den Sonderpreis des Westdeutschen Rundfunks für Zivilcourage und ihren Einsatz für Demokratie und Toleranz. Die Frage, wie sie das aushalten und warum sie bleiben, bleibt trotz aller Anerkennung.

Andere wären wahrscheinlich schon längst weggezogen, sie nicht. „Wir haben uns mit dem Forsthaus einen Lebenstraum erfüllt“, sagt Birgit Lohmeyer. „Den lassen wir uns nicht nehmen, auch wenn manche das vielleicht mit Gewalt durchsetzen wollen.“ Körperlich bedroht wurden sie bisher nicht. Nach dem Brand machen sie sich aber Sorgen um ihr Wohnhaus. Sie strahlen „Angstfreiheit“ aus, wie Birgit es nennt. „Bei uns gibt es keinen hohen Zaun um das Gelände“, sagt sie. „Keinen scharfen Hund und keine verschlossene Zufahrt zum Gelände.“ Den alten, teilweise morschen Holzzaun rund um ihr Grundstück hat Anfang des Jahres sowieso schon jemand an einer Stelle eingetreten. Die Täter sind bislang nicht ermittelt. Sie bleiben genauso „unbekannt“ wie die Brandstifter, die die Scheune angezündet haben. Dass es Brandstiftung war, ist polizeilich dokumentiert.