Die Kandidatin, die Frauen und die Gewalt am Hindu-Tempel

Die Kandidatin, die Frauen und die Gewalt am Hindu-Tempel

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Mit Gewalt setzten radikale Hindus ein Verbot gegen Frauen in einem Tempel in Kerala durch. Indiens Regierungspartei will das jetzt bei der Wahl für sich nutzen und zieht massiv die religiöse Karte. Eine Frau hat etwas dagegen.

Veena George ist von Bewunderern umringt. Sie hängen ihr Blumenketten und einen Kranz aus Luftballons um. Lächelnd schüttelt George Hände, knuddelt Kinder und lässt mit sich Selfies machen. Dann wird sie ernst, nimmt ein Mikrofon und spricht über Verbesserungen, die sie für die Menschen in ihrem Wahlkreis im südindischen Bundesstaat Kerala erstreiten will: gut bezahlte Jobs, besseren Zugang zu Trinkwasser und höhere Preise für Gummibauern.

Beim Redenhalten kommt George ihre Erfahrung als Fernsehjournalistin zugute. Politikerin ist sie erst seit drei Jahren – bisher im Lokalparlament von Kerala. In Europa ist ihre Heimat bei Touristen für Palmenstrände, Naturschutzgebiete und Bootstouren auf Kanälen bekannt. Sie selbst beschäftigt sich eher mit den Sorgen der Menschen in der von Landwirtschaft geprägten Region. Um diese in der rund 3.000 Kilometer nördlich gelegenen Hauptstadt Neu-Delhi zu vertreten, kandidiert sie um einen der 545 Sitze im Unterhaus des Parlaments.

Erst Fernsehjournalistin, jetzt Politikerin

Indien wählt in sieben Phasen über knapp sechs Wochen eine neue Volksvertretung. Dabei geht es auch um eine zweite, fünfjährige Amtszeit für Narendra Modi als Premierminister aus der religiös-nationalistischen BJP.

Frauen und Mädchen hören Veena George bei Wahlkampfauftritten besonders gebannt zu. „Ich habe als Kandidatin einen Vorteil“, sagt die 44-jährige studierte Physikerin. „Frauen erzählen mir von ihren Sorgen. Sie können auf mich zugehen, ohne dass jemand anderes für sie sprechen müsste.“ Damit spielt sie darauf an, dass in Indien oftmals Väter, Brüder und Ehemänner im Namen der Frauen Dinge regeln.

Als Politikerin ist George in Indien eine Seltenheit. Bei der Parlamentswahl 2019 könnten in dem 1,3-Milliarden-Einwohner-Land zwar erstmals mehr Frauen als Männer ihre Stimmen abgeben. Doch nur an wenigen Orten gibt es Kandidatinnen. In der bevölkerungsreichsten Demokratie der Erde sind Frauen generell in weiten Teilen des öffentlichen Leben deutlich unterrepräsentiert.

600 Millionen Frauen

Obwohl das Land 72 Jahre nach seiner Unabhängigkeit von Großbritannien in mancher Hinsicht beständig moderner wird, hat sich für die mehr als 600 Millionen Frauen zuletzt sogar einiges verschlechtert. Viele können nicht frei über ihr Leben bestimmen. Und bisweilen verteidigen Männer ihre Vorherrschaft auch mit Gewalt.

Als Vertreterin der marxistisch-kommunistischen Partei will Veena George vor allem für Arme und Benachteiligte kämpfen. Als Kandidatin ist sie aber auch eine Hoffnungsträgerin für Frauen – und das an einem symbolträchtigen Ort. In ihrem Wahlbezirk Pathanamthitta steht der Sabarimala-Tempel, wo Frauen im gebärfähigen Alter unerwünscht sind. Der Streit um das Betreten dieser Anlage ging 2018 um die Welt.

Am Vorabend des regionalen Hindu-Neujahrsfestes Vishu ist der Andrang auf den Tempel auch jetzt wieder groß. Steil geht es für die barfuß pilgernden Massen unzählige Steinstufen im Regenwald, in einem Tigerreservat, hinauf. Schwitzende Männer mit nackten Oberkörpern, Bündel aus Kissen und Decken auf dem Kopf, verschnaufen kurz am Wegesrand. Andere stoßen keuchend immer wieder den Namen des Gottes Ayyappa aus, an dessen Schrein sie um das Erfüllen ihrer Wünsche bitten wollen. Straßenschilder warnen vor kreuzenden Elefanten.

Männer verteidigen Vorherrschaft

Unter den Pilgern sind ältere Frauen und Kinder. Frauen im gebärfähigen Alter, definiert als 10 bis 50 Jahre, ist der Tradition nach der Zutritt zum Tempel verboten. So soll Ayyappa, der als keusch gilt, nicht in Versuchung gebracht werden.

Indiens Oberster Gerichtshof urteilte im vergangenen September, dass das Frauenverbot das Recht auf freie Religionsausübung verletze. Frauen jeden Alters müssten Zutritt haben zum Sabarimala-Tempel. Doch als das Heiligtum im Oktober öffnete – was nur zu bestimmten Anlässen geschieht – versammelten sich Hunderte radikale Hindus, um Frauen weiter draußen zu halten. Es kam bis in den Januar zu Ausschreitungen, bei denen einer der Hardliner starb.

Im Morgengrauen des Vishu-Festes drängen sich Zehntausende Pilger vor dem goldverzierten Tempel. Unter ihnen ist K. Surendran. Er ist einer der zwei Mitbewerber von Veena George um den Parlamentssitz des Kreises Pathanamthitta. Er kandidiert für die hindu-nationalistische BJP von Premier Modi. Er war auch einer der Organisatoren der gewaltsamen Proteste gegen die Öffnung des Tempels für alle Frauen.

Regierungspartei BJP will in Kerala punkten

Trotz großer Erfolge im Rest des Landes hat sich die BJP an Kerala jahrelang die Zähne ausgebissen. Der Süden Indiens ist etwas anders als das Hindu-Kernland im Norden: Er ist weniger arm, das Bildungssystem gilt als besser und das alte, hierarchische Kastensystem spielt eine weniger große Rolle.

Die BJP will den Tempel-Streit jetzt nutzen, um die Lücke im Süden zu schließen. Premier Modi wetterte bei einem Auftritt in Kerala gegen die Haltung der Regierung des Bundesstaates, dass die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs befolgt werden müsse: „Wir wissen, dass die CPI(M) Spiritualität und Religion nie respektiert hat“, sagte er. CPI(M) ist die Abkürzung der marxistisch-kommunistischen Regierungspartei Keralas, zu der auch Veena George gehört.

„Die BJP will das Wort ’säkular‘ aus der indischen Verfassung streichen“, sagt George während eines Wahlkampftages im Ort Adoor, rund 80 Kilometer von Sabarimala entfernt. Vor und hinter ihrem Auto fahren Transporter, an deren Seiten Fotos ihres Gesichts prangen. Auf den Wagendächern sind Lautsprecher befestigt. So rollt die Kolonne durch die mit Palmen gesäumten, teils unbefestigten Straßen.

Tempelstreit befeuert den Wahlkampf

Der BJP-Kandidat versuche, mit Religion Wahlkampf zu machen. „Sie wollen die Leute im Namen der Religion spalten“, meint George. „Das Gebot der Stunde ist es, sie zu besiegen.“

Indienweit gilt die jahrzehntelang regierende Kongresspartei als stärkster Gegner der BJP. Ihr gehörte Indira Gandhi an, die in den 60er Jahren eine der ersten zur Regierungschefin gewählten Frauen der Welt war. Ihren Aufstieg verdankte sie vor allem der starken Position ihrer Familie, da sie die Tochter Jawaharlal Nehrus war, des ersten Premierministers im unabhängigen Indien.

Der amtierende Abgeordnete für Pathanamthitta, der dritte Kandidat neben George und Surendran, gehört der Kongresspartei an. Wie die BJP hat auch diese sich gegen das Tempel-Gerichtsurteil positioniert, wohl vor allem aus politischem Kalkül. Es gilt, die Stimmen der Hindus zu bekommen, die in Kerala in der Mehrheit sind.

Wenn die Wahl in dem Bundesland, wie einige indische Medien schreiben, ein Referendum über das Gerichtsurteil ist, dann steht Veena George für die Gleichberechtigung von Frauen. Und die anderen zwei Kandidaten für die Wahrung einer männlich dominierten Tradition.

Rückschritte für Frauen im Beruf

Letztere Fraktion scheint in Indien derzeit klar die Nase vorn zu haben. Trotz einer rasant wachsenden Wirtschaft sinkt etwa die ohnehin niedrige Erwerbsquote von Frauen. Sie liegt bei 27 Prozent – in Deutschland sind es mehr als 70 Prozent. Ein Bericht der Hilfsorganisation Oxfam vom März führt die zunehmend ungleichen Erwerbschancen auch auf „rückschrittliche soziale Normen“ zurück. Demnach halten gut 54 Prozent der Inder – dabei manche Frau – es für angemessen, eine Frau zu schlagen, wenn sie das Haus verlässt, ohne einen Mann um Erlaubnis zu bitten.

Auch sexuelle Gewalt ist ein riesiges Problem. Regelmäßig sorgen grausame Vergewaltigungen für Schlagzeilen – daran haben verschärfte Gesetze nach der tödlichen Gruppenvergewaltigung einer Studentin in einem Bus in Neu-Delhi im Jahr 2012 nichts geändert.

Viele Fälle von sexueller Nötigung werden gar nicht erfasst, weil die Polizei die Anzeigen nicht aufnimmt. Opfer werden nicht ernst genommen oder ihnen wird selbst die Schuld gegeben – etwa wegen angeblich zu freizügiger Kleidung. Als auch in Indien die #MeToo-Bewegung an Fahrt aufnahm, sagte ein BJP-Parlamentsabgeordneter, vermeintliche Missbrauchsopfer würden in Wirklichkeit Männer in „Honigfallen“ locken, um sie zu erpressen.

Millionen Frauen fehlen in Wahllisten

Zwei Journalisten fanden kürzlich heraus, dass rund 21 Millionen Frauen nicht für die diesjährige Abstimmung registriert sind, ein großer Teil davon im Norden. Der Grund ist unklar. Aber S.Y. Quraishi, der frühere Chef der Wahlkommission, sagte der britischen BBC, es gebe Familien, die ihre Töchter nicht registrierten, damit durch das Bekanntwerden ihres Alters ihre Heiratschancen nicht sinken. In Indien bestimmen viele Eltern über das Leben ihrer Töchter, bis diese heiraten.

Im Parlament sind nur etwa zwölf Prozent der Abgeordneten Frauen – weniger als in Ländern wie Saudi-Arabien und Afghanistan. Im Deutschen Bundestag sind es rund 31 Prozent. Bei der nun laufenden Wahl in Indien sind nach Daten der Ashoka-Universität nur knapp 8 Prozent der mehr als 1.200 Kandidaten weiblich.

Erfolgsfrauen als Ausnahmen

Zwar gibt es prominente Beispiele erfolgreicher Frauen. Derzeit hat Indien eine Außenministerin und eine Verteidigungsministerin. Frauen sitzen in Vorständen großer Unternehmen und Richterinnen am Obersten Gerichtshof. Sie sind aber Ausnahmen, nicht die Regel.

Auch Veena George ist sich bewusst, dass sie wegen ihrer relativ wohlhabenden, liberalen Familie Chancen gehabt hat, von denen viele Frauen in Indien nur träumen können. „Ich hatte nie das Gefühl: Ich bin eine Frau, ich kann das nicht“, sagt sie. „Ich stehe für die Frauen, die nicht dieselbe Freiheit und dieselben Rechte haben.“

Sie will aber nicht nur als Kandidatin für Frauen gesehen werden. Es gehe ihr vor allem um Entwicklung, und darum, dem religiösen Populismus – in Indien Kommunalismus genannt – Einhalt zu gebieten.