KommentarZeit für ein Gegenmittel: Die Bluttat von Hanau und das Gift in der Gesellschaft 

Kommentar / Zeit für ein Gegenmittel: Die Bluttat von Hanau und das Gift in der Gesellschaft 
Ein Mann legt am Heumarkt in unmittelbarer Nähe eines Tatorts Blumen ab: Neun Menschen mit Migrationshintergrund wurden einfach hingerichtet, sechs zum Teil schwer verletzt Foto: dpa/Andreas Arnold

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Aus offenbar rassistischen Motiven hat ein 43-jähriger Deutscher in Hanau mutmaßlich neun Menschen mit ausländischen Wurzeln erschossen. Er wurde zusammen mit seiner Mutter nach dem Anschlag am Mittwochabend tot in seiner Wohnung aufgefunden. Die Generalanwaltschaft ermittelt wegen Terrorverdachts. Doch eine solche Tat kommt nicht aus dem Nichts. Es gibt einen geistigen Hintergrund rechter Taten.

Diese Tat muss eine Zäsur sein. Wach werden! Neun ermordete Menschen mit Migrationshintergrund, einfach hingerichtet. Sechs Verletzte, zum Teil schwer. Ob der Täter krank, wirr oder paranoid gewesen ist, ist völlig egal. Eine solche Tat kommt nicht aus dem Nichts. Nun muss endlich auch der letzte Hinterwäldler begreifen: Menschenfeindlichkeit, Rassismus, Ausgrenzung und Hetze fördern das Böse ans Tageslicht. Nicht das Gute und auch nicht die heile deutsche Welt. Heute wie früher nicht. Erst das Wort, dann die Tat. Nie war diese Erkenntnis wahrer als jetzt.

Der Mord an Walter Lübcke, der Anschlag auf die Synagoge in Halle, nun das Massaker in Hanau, dazu kürzlich die Festnahmen mehrerer Rechtsextremer mit kruden Umsturzfantasien – Deutschland hat ein rechtes Terrorproblem. Und zwar ein mörderisches. Schon seit dem NSU. Das kann man nicht mehr ernsthaft in Zweifel ziehen. Auch wenn AfD-Fraktionschef Alexander Gauland dies ein ums andere Mal bestreitet, die Enthemmung wird politisch begleitet und befeuert. Es gibt einen geistigen Hintergrund rechter Taten, Zündler und Mitläufer. Sozusagen eine gemeinsame Erzählung, gespeist vor allem aus Verschwörungstheorien. Manche Reaktion bei Twitter belegt dies – und verursacht nur noch extreme Übelkeit.

Wie lange wollen Gesellschaft und Staat sich das noch gefallen lassen?

Wie lange wollen Gesellschaft und Staat sich noch gefallen lassen, dass der Hass gegen andere Menschen immer salonfähiger wird und in brutaler Weise Leben auslöscht? Angela Merkel spricht vom Gift. Gift zersetzt, manchmal quälend langsam. Bis dass der Tod eintritt. Die demokratische Gesellschaft, in der vielen der Respekt vor anderen Menschen und anderen Meinungen mittlerweile abhandengekommen ist, befindet sich also in höchster Gefahr. Zeit für ein Gegenmittel.

Wie war das noch in den 1970er-Jahren, als der Linksterrorismus der RAF die Republik bedroht hat? Da gab es eine radikale Kooperation von Polizei und Justiz, mit aller Macht ging der Staat damals gegen seine Feinde vor. Auch gegen die, die sich seinerzeit Sympathisanten nannten. Und heute? „Wir müssen“, „wir dürfen nicht“, „wir können nicht“ – das sind die politischen Reaktionen nach jeder neuen Horrortat. Wer aber das Gift wieder entfernen will, muss hart therapieren. Ähnlich wie in den 70ern, nur zusätzlich auf neuen Ebenen.

Die Sicherheitsbehörden sind zuletzt bereits gezielt und verstärkt gegen rechtsextreme Gruppierungen vorgegangen. Das ist ein Anfang. Mehr aber noch nicht. Der Druck muss weiter hoch bleiben. Die Zusammenarbeit der Behörden muss daher verbessert werden. Es braucht mehr Personal gegen den rechten Terror, ein entschlossenes Vorgehen gegen Netzwerke und Strukturen. Und es muss deutliche Urteile geben, die vielleicht abschreckend wirken können.

Wer hetzt, muss zudem viel schneller verfolgt und bestraft werden. Gerade im Netz. Jeder sollte sich klarmachen, wie wertvoll eine freiheitliche Gesellschaft ist, die auf Dauer den alltäglichen Hass nicht aushalten wird. Endlich wach werden.

Die Gefahr von rechts

Der Anschlag von Hanau macht einmal mehr deutlich, wie groß die Gefahr von rechts ist. Den Sicherheitsbehörden bereitet die wachsende Zahl der Anhänger der Szene seit geraumer Zeit Sorgen. Der jüngste Jahresbericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz beziffert die Zahl der Rechtsextremisten für das Jahr 2018 auf 24.100 Rechtsextreme – das ist die in der Geschichte der Bundesrepublik höchste Zahl. Gut die Hälfte davon – 12.700 – gelten als gewaltbereit. Nach Angaben des Berliner Tagesspiegel zählt der Inlandsgeheimdienst inzwischen sogar 32.000 Anhänger der rechten Szene – was daran liege, dass neuerdings auch die Junge Alternative und der „Flügel“ in der AfD dazu gezählt werden. Von den 24.100 Rechtsextremisten gehören 5.500 einer Partei an, 6.600 weitere sind in parteiunabhängigen Strukturen organisiert. Dem weitgehend unstrukturierten Potenzial werden 13.200 Anhänger zugeordnet. Die Reichsbürger, zu denen der Attentäter von Hanau nach Einschätzung von Experten gehört haben könnte, rechnet der Verfassungsschutz teilweise den parteiunabhängigen Strukturen und teilweise dem unstrukturierten Potenzial zu. Insgesamt weist der Bundesverfassungsschutz die Zahl der rechtsextremistischen Reichsbürger mit 950 aus. Von den Rechtsextremisten wird bislang nur ein kleinerer Teil als Gefährder eingestuft – allerdings steigen die Zahlen hier rasant an. Das Bundeskriminalamt (BKA) zählt derzeit 60 Gefährder im Bereich „politisch motivierte Kriminalität rechts“, wie die Behörde den Zeitungen des Redaktionsnetzwerkes Deutschland (RND) vom Donnerstag mitteilte. Damit verzeichne die Statistik „in den letzten Jahren einen stetigen Anstieg“. Seit 2012 habe sich die Zahl der rechtsextremistischen Gefährder „verfünffacht“. Noch Mitte Februar zählte die Polizei den Angaben zufolge 53 rechtsextremistische Gefährder, denen sie schwere Gewalttaten bis hin zu Anschlägen zutraut. Davon saßen 24 in Haft. Das Bundesinnenministerium hatte am Montag von 50 Gefährdern gesprochen. (AFP)

J.Scholer
21. Februar 2020 - 6.30

In seinem Roman „Flächenbrand „beschrieb Max von der Grün vor Jahren die Gefahr des Terrors durch rechtsextreme Gruppierungen. Er ging auf einige der Hauptursachen des Aufkommens dieser Entwicklungen ein. Politische Unzufriedenheit und der Kapitalismus in der Krise sind Ursachen solcher Entwicklungen. Grün schrieb dieses Buch 1979 , traurig ist ,die Politik hat an ihrem Tun nichts geändert , hat die rechtsextremen Gruppierungen gewähren lassen, den Ursachen des Rückhaltes bei den Wählern solcher rechter Parteien nicht entgegengewirkt.