Nach dem Krieg in Bergkarabach Der hohe Blutzoll und neue Gräueltaten lasten schwer auf dem Neuanfang

Nach dem Krieg in Bergkarabach  / Der hohe Blutzoll und neue Gräueltaten lasten schwer auf dem Neuanfang
Ein armenischer Soldat an der Front Ende Oktober: Armenien meldet 2.500 Gefallene, die reale Zahl dürfte weit höher sein  Foto: AFP/Aris Messinis 

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Nach dem Krieg kehrt das Leben nach Bergkarabach zurück. Doch die Sorgen steigen. Um das kulturelle Erbe – und um die gefangenen Soldaten.

Das Leben kehrt zurück nach Stepanakert: Auf den Straßen der Hauptstadt Bergkarabachs rollen Autos, ein paar Marktstände haben geöffnet, Wäsche hängt zum Trocknen im Freien. Eine Bar bietet den Cocktail „Russischer Friedenssoldat“ an, einen Mix aus Granatapfelsaft, Wodka und Blue Curaçao, wie ein kanadischer Reporter auf Twitter berichtet.

Während in der armenischen Hauptstadt Jerewan der politische Zank nach der Niederlage in Bergkarabach nur Beamtenkarrieren beendet, müssen sich die Karabach-Armenier in ihrem neuen Alltag voller Unsicherheiten einrichten.

Alles Heu und das Gartenhaus: Flüchtende Karabach-Armenier ließen kaum etwas zurück, manche verbrannten gar ihr Haus
Alles Heu und das Gartenhaus: Flüchtende Karabach-Armenier ließen kaum etwas zurück, manche verbrannten gar ihr Haus Foto: AFP/Andrey Borodulin

Nur wenige Kilometer von Stepanakert entfernt, in der Stadt Schuscha, steht nach dem Ende des sechswöchigen Krieges die aserbaidschanische Armee. Dazwischen sind russische Soldaten positioniert, die die armenische Bevölkerung im geschrumpften Rest-Karabach beschützen sollen. Aus diesem Grund sehen viele die Ankunft der Soldaten notgedrungen wohlwollend, auch wenn die Begrüßung wohl nicht immer so herzlich ausfällt wie bei einem offiziellen Termin vor ein paar Tagen: Da überreichte man den Russen Früchte und Brot.

Sorge um armenische Sakralbauten und Friedhöfe

Russland ist es, das nun für die Umsetzung des Waffenstillstandsabkommens sorgt, das den sechswöchigen Krieg beendet hat. In dem Papier werden die Gebietsverluste der Armenier festgeschrieben und ein Fahrplan für die Übergabe weiterer Territorien festgelegt. Der Transfer der im ersten Krieg von Jerewan eroberten aserbaidschanischen Bezirke erfolgte bisher nach Plan.

Die armenischen Bewohner räumen das Gebiet – kampflos, aber nicht willenlos: Vor der Evakuierung zündete manch einer sein Haus an, um dem Gegner ja nichts zu überlassen; die Armee sprengte ein Militärlager in die Luft, bevor die letzten Kämpfer einen Bus bestiegen, der sie aus der Konfliktzone fuhr.

Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyev lässt sich in den eroberten Gebieten feiern
Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyev lässt sich in den eroberten Gebieten feiern Foto: AFP

Aserbaidschan präsentiert nun stolz, wie es die Gebiete wieder in Besitz nimmt. Videos des Verteidigungsministeriums zeigen das Vorrücken des Militärs im Bezirk Kelbadschar: Lkws und Panzer unter aserbaidschanischer Flagge im verschneiten Gebiet. Präsident Ilham Alijew nutzt den Triumph, um sich als Sammler des aserbaidschanischen Bodens zu inszenieren.

Vor ein paar Tagen chauffierte er seine Frau, Mehriban, wie er in Flecktarn gekleidet, am Steuer eines schwarzen Panzerwagens in die Geisterstadt Agdam, die sich seit kurzem ebenfalls wieder unter aserbaidschanischer Kontrolle befindet. Er kündigte an, die komplett zerstörte Stadt neu aufbauen zu wollen. Als letzter Distrikt soll Latschin bis 1. Dezember unter Bakus Kontrolle kommen. Das ist besonders sensibel, da dort die einzige – nunmehr von russischen Soldaten gesicherte – Straße in das armenisch besiedelte Gebiet führt.

Trotz des Endes der Gefechte kann von Entspannung der Atmosphäre zwischen den Kontrahenten keine Rede sein. Während Baku kritisiert, dass die Armenier Städte wie Agdam und aserbaidschanische Kulturdenkmäler in den besetzten Gebieten im vergangenen Vierteljahrhundert absichtsvoll zerfallen ließen, werden von armenischer Seite Vorwürfe über aktuelle Zerstörungen durch Bakus Armee erhoben. Die Sorge gilt insbesondere armenischen Sakralbauten und Friedhöfen.

Schwerer noch wiegen die Hinweise auf Kriegsverbrechen, die mutmaßlich an Soldaten begangen wurden. In den jüngst vergangenen Tagen ist eine Vielzahl an Videos aufgetaucht, die von anonymen Quellen in sozialen Netzwerken veröffentlicht werden. Häufig werden diese Clips von Soldaten aufgenommen, um eigene „Heldentaten“ zu dokumentieren, Rache für erlittenes historisches Unrecht zu üben und die Gegenseite zu erniedrigen. Sie zeugen von einem kurzen, aber mit großer Brutalität geführten Krieg, in dem die Vorstellung von ethnischer Alleinherrschaft über ein Territorium für beide Kriegsparteien bestimmend war. So sind mehrere Clips mit eingeschüchterten bzw. verletzten Kriegsgefangenen beider Seiten aufgetaucht, die auf Folterpraktiken schließen lassen.

Hinweise auf Exekutionen und Leichenschändungen

Aserbaidschanische Soldaten veröffentlichten zudem Clips, die auf Exekutionen hindeuten könnten und Szenen von Leichenschändungen zeigen. Die Echtheit der Aufnahmen ist noch nicht bestätigt. Diese Bilder lösten Entrüstung in sozialen Medien und Reaktionen von Politik und Menschenrechtlern aus.

2.000 russische Friedenssoldaten sollen in Bergkarabach für Ordnung sorgen
2.000 russische Friedenssoldaten sollen in Bergkarabach für Ordnung sorgen Foto: AFP/Karen Minasyan

Die Behörden in Baku haben nun Ermittlungen wegen möglicher Folter und Leichenschändung eingeleitet. Allerdings ist der Wille zur Aufklärung offenbar begrenzt: Die Generalstaatsanwaltschaft ließ verlauten, mehrheitlich handle es sich um Fälschungen. Auch grausige Videos, die Soldatenleichen zeigen, werden publiziert. Sie sollen die Verluste des Gegners betonen.

Tatsächlich hat der kurze Krieg hohen Blutzoll gefordert, dessen gesamtes Ausmaß bisher nur erahnt werden kann: 2.500 getötete Soldaten meldet Armenien. Die reale Zahl dürfte weit höher sein. Mehrere hundert Männer werden noch vermisst. Ob sie in Gefangenschaft sind oder im Gefecht gestorben sind, weiß niemand. Baku schweigt überhaupt zu seinen Verlusten im Feld.