Cricket und sonst (fast) gar nichts

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Die Inder haben andere Sorgen als sich intensiv mit Sport zu beschäftigen. Wenn aber ein wichtiges Cricket-Match auf dem Programm steht, dann starrt die Nation gebannt auf den TV-Schirm.

In unseren Breitengraden ob seiner scheinbaren Langatmigkeit nicht geraden populär, kommt man in Indien am Cricket nicht vorbei. An fast jeder Ecke sieht man Kinder Cricket spielen. Sie eifern ihren Helden der Nationalmannschaft nach, die spätestens seit dem Gewinn des Weltmeistertitels bei der Heim-WM 2011 wie Halbgötter verehrt werden. Im TV laufen die Matches in einer Endlosschleife, von überdimensionalen Werbeplakaten strahlen die Profis in den Städten um die Wette, auch wenn die Sportart Nr. 1 in Indien momentan einmal mehr von einem riesigen Manipulationsskandal erschüttert wird.

Cricket ist im 1,2-Milliarden-Einwohnerstaat omnipräsent. Das war früher anders. Bis in die 60er Jahre war Indien mit dem Erzrivalen Pakistan die Hockey-Großmacht schlechthin. Achtmal Olympiagold sicherten sich die indischen Hockeyherren insgesamt. Wenn man bedenkt, dass das Riesenreich insgesamt lediglich neun Goldmedaillen bei Olympischen Spielen holte (dazu sechs Mal Silber und elf Mal Bronze), war die Vormachtstellung des Hockeysports plausibel. Aber die Zeiten ändern sich, Indiens Nationalteam belegt in der Weltrangliste nur noch Platz 11 und so konnte Cricket Hockey als Indiens Sportart Nummer eins ablösen.

In der Fifa-Weltrangliste hinter Luxemburg

Fußball dagegen hat einen untergeordneten Stellenwert. Man verfolgt zwar die englische Premier League im Fernsehen, das war es dann aber auch schon. In der Fifa-Weltrangliste belegen Indiens Kicker momentan Platz 150… und sind damit unmittelbar hinter Luxemburg platziert.

Im Konzert der Großen spielt Indien dagegen in der Formel 1 mit. Seit 2011 wird der Große Preis von Indien vor den Toren Delhis ausgetragen. Die Baukosten des „Buddh International Circuit“ (rund 290 Millionen Euro) trug v.a. Vijay Mallya und sein Kingfisher-Imperium, das auch das Force-India-Team finanziert. Seit dem Fiasko mit der eigenen Fluggesellschaft ist der Kingfisher-Konzern, der 80 Prozent des in Indien verkauften Alkohols produziert, jedoch in arge Schieflage geraten und die Zukunft des Force-India-Teams steht trotz beachtlicher sportlicher Resultate mehr denn je in den Sternen.

Populärste Einzelsportarten im Land sind momentan Schach und Badminton, was den Erfolgen von Weltmeister Viswanathan Anand (Schach) und der Weltranglisten-2. Saina Nehwal (Badminton) geschuldet ist.

Der Polosport, der seinen Ursprung im 15. Jahrhundert in Indien hatte, wird kaum mehr praktiziert, ganz im Gegensatz zum ureigenen Kabaddi, das vor allem in ländlichen Gegenden ein Renner ist. An die momentane Popularität des Crickets kommt aber auch die Mannschafts-Kampfsportart nicht heran. Und da Cricket bis auf weiteres wohl kaum ins Olympische Programm aufgenommen werden dürfte, muss man sich auch in Zukunft auf einen der hinteren Plätze im ewigen Medaillenspiegel Olympias begnügen. Bei 1,2 Milliarden Einwohnern ist Indien das pro Kopf wohl am wenigsten mit olympischen Medaillen dekorierte Land der Welt. Was freilich niemanden stört, denn mehr als anderswo ist der Sport in Indien eine wirkliche Nebensache.
(Philip Michel/Tageblatt.lu)