„Die Eiszeit ist vorbei“

„Die Eiszeit ist vorbei“
(Tageblatt/Pierre Matgé)

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Roger Cayzelle ist ein Mann der klaren Worte. Er scheut sich nicht, zu provozieren und Probleme frontal anzusprechen – immer mit dem Ziel, die Situation seiner Region, der Lorraine, zu verbessern.

Und die Region, mit ihren 2,3 Millionen Einwohnern, hat echte wirtschaftliche Probleme zu bewältigen. „In einer Zeitspanne von nur zwölf Jahren hat die Lorraine 100.000 Arbeitsplätze in der Stahlindustrie verloren“, so der Präsident des „Conseil économique social et environmental de Lorraine“.

Allein in der Kleinstadt Longwy sei die Zahl der Jobs im Stahlbereich von 30.000 auf null zurückgegangen.
Es sei ein richtiger Schock für die Region gewesen, erzählt er. Vorher sei Lothringen reich gewesen, und jeder habe das Gefühl gehabt, dass dies ewig anhalten würde. „Wir waren nicht pragmatisch genug, um schnell umzudenken.“

Lorraine: Stahlkrise nicht überwunden

Im Gegensatz zu Luxemburg habe es die Lorraine jedoch nie geschafft, die Folgen der Stahlkrise zu überwinden. „Die Region hat es nicht geschafft, einen Sektor aufzubauen, der, wie der Finanzbereich in Luxemburg, die gesamte wirtschaftliche Entwicklung vorantrieb.“

Diese Entwicklung hat mehrere Folgen. Dazu zählt die demografische Entwicklung. „Seit 40 Jahren ist die Lorraine eine Region, aus der qualifizierte Menschen mit Kindern auswandern.“ Diesen Trend umzukehren, ist schwer: „Wir sind ein mediterranes Land und die Menschen werden von der Sonne angezogen.“ Doch innerhalb Frankreichs habe die Lorraine das Image einer „verregneten Region“.
Zudem ist die Zahl der Grenzgänger, die in Luxemburg oder im Saarland arbeiten, letztes Jahr auf über 100.000 Personen angestiegen – das sind 10 Prozent der arbeitenden Bevölkerung. Zwei Drittel von ihnen verdienen ihr Lohn im Großherzogtum. Sie bringen der Lorraine jedes Jahr zwischen zwei bis sechs Milliarden Euro, freut sich der Gewerkschafter.

Reizthema Grenzgänger

Doch nicht jeder ist glücklich über diese Situation, so Roger Cayzelle gestern Morgen gegenüber den Wirtschaftsjournalisten der Editpress-Gruppe. Luxemburg sauge die Lorraine aus, sei einer der Vorwürfe, die regelmäßig zu hören seien.
Roger Cayzelle ist mit dieser Sicht der Dinge nicht einverstanden: „Ohne Luxemburg wären wir in einer katastrophalen Situation“, sagt er ohne Umschweife. Die Region habe Probleme, neue Jobs zu schaffen, und, ohne das Phänomen der Grenzgänger würden noch deutlich mehr Menschen die Lorraine verlassen, ist er überzeugt.

Als Begründung nennt er die Stadt Thionville, neben Luxemburg, die die einzige Stadt Lothringens ist, in der die Bevölkerung wächst.
Auch seien eine ganze Reihe von gewählten Politikern der Meinung, Luxemburg müsse beispielsweise für die Straßeninfrastruktur in der Lorraine bezahlen. „Sie sind überzeugt, dass Luxemburg der Lorraine Geld schuldet“, so Cayzelle.

„Reicher als Frankreich“

Persönlich findet er diese Überlegungen „verrückt“. „Anstelle uns über Luxemburg zu beschweren, sollen wir uns an Luxemburg inspirieren“, so der ehemalige Lehrer. „Wir müssen aufhören, Luxemburg als einen Feind zu betrachten.“

Dass das vielen Menschen in Frankreich schwerfällt, erklärt er sich durch den schnellen Aufstieg Luxemburgs. „Früher haben wir auf Luxemburg herabgeschaut und unseren Urlaub dort verbracht – und heute sind sie reicher als wir.“

Baubeginn in Esch-Belval

Möglicherweise ist es der familiäre Hintergrund, der erklärt, warum Roger Cayzelle eine „europäischere“ Sicht der Dinge hat. Geboren wurde er in Mainz, seine Mutter war Deutsche, sein Vater Franzose. In Lothringen lebt er seit 1952.

Das Reizthema Esch-Belval analysiert er ähnlich. „Sobald dort Probleme auftreten, freuen wir uns, dass die Luxemburger es nicht gebacken bekommen“, sagt er über die Bürger seiner Region. Dabei sei diese Reaktion einfach falsch: Luxemburg schreite voran, und Frankreich müsse einfach mitziehen.

Autobahn-Ausbau ungewiss

Im Sommer dieses Jahres soll es dann endlich so weit sein. Die ersten Bagger sollen dann mit dem Bau einer Öko-Stadt mit 500 Häusern anfangen. Dabei sei das Ziel jedoch nicht, eine Schlafstadt für Grenzgänger aufzubauen. Die Unternehmen sollen neue Kompetenzen im Bereich der Passivhäuser sammeln, und diese auch weiter nutzen können.

Wann die Autobahnverbindung zwischen beiden Ländern ausgebaut wird, bleibt unklar. Wie es mit dem geplanten internationalen Krankenhaus weitergeht, bleibt ebenfalls unklar.
Der Präsident des „Conseil économique social et environmental de Lorraine“ wünscht sich für die Zukunft eine bessere und intensivere Zusammenarbeit mit Luxemburg. „Wir müssen uns öfter treffen, mehr miteinander reden und uns besser verstehen lernen.
Es reicht nicht, nur zu sagen: Wir sind Nachbarn.“

Eine echte Großregion sei bisher noch nicht entstanden. „Wir sind noch nicht weit fortgeschritten.“ Er ist aber überzeugt, dass die Einstellung gegenüber Luxemburg (und dem Saarland) dabei ist, sich zu normalisieren.

Bewegung in Lothringen

„So langsam geht die Eiszeit vorbei“, meint er. In den letzten zwei Jahren sei viel passiert, die Mentalitäten seien im Wandel.

Mehr Zusammenarbeit wünscht er sich zwischen den vier Universitäten der Lorraine – die mittlerweile einen einzigen Chef haben – und der noch jungen Luxemburger Uni. Hier zeige sich, dass auch Lothringen in Bewegung ist.

Auch die Zusammenarbeit im Gesundheits- und Kulturbereich möchte er entwickeln.

„Es ist traurig, dass wir es nicht fertigbringen, gemeinsam Reichtum zu schaffen“, so Roger Cayzelle weiter. „Dabei werden wir unsere wirtschaftliche Attraktivität nur gemeinsam mit Luxemburg wiederherstellen können.“