Giddens und die Agenda

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Die Sozialdemokratie ist unweigerlich an Errungenschaften wie soziale Gerechtigkeit und Sicherheit gebunden. Sie zieht ihre Kraft daraus, wird daran gemessen und hat durch die Stärkung des Sozialstaates ihre demokratische Legitimität gefestigt.

Die Abkehr von gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Utopien ist ihr großes Verdienst. In zahlreichen europäischen Staaten verbesserte sie die Situation der arbeitenden Bürger, ohne sich auf ideologischen Ballast marxistischer Prägung zu berufen.

Dhiraj Sabharwal dsabharwal@tageblatt.lu

Mit realistischen Konzepten anstelle von revolutionärem Gedankengut wurde ein Gegengewicht zum Kapitalismus aufgebaut. Prinzipien wie Solidarität konnten sich in dieser politischen Ordnungsform entfalten: Sozialdemokratische Politiker waren in der Lage, sich für Gleichberechtigung und eine ausgewogene Bildung der Bürger einzusetzen. Der reine Konkurrenzkampf war noch nicht die der Gesellschaft übergestülpte oberste Staatsmaxime. Das 150-jährige Bestehen der SPD erinnert unweigerlich an diese für das 21. Jahrhundert relevanten Werte. Sie werden nämlich mehr denn je durch eine fehlgeleitete liberal-konservative Politik untergraben.

Während sich in den 70er Jahren Keynesianismus und Staatsinterventionen im Sinne des Wohlfahrtsstaates durchsetzen ließen, sucht man im „Zeitalter der Austerität“ vergeblich nach diesen die Gesellschaft stabilisierenden Prinzipien und ihren Befürwortern – abgesehen von der Achse um Frankreichs Präsident François Hollande, die sich gegen die Kapitulation der europäischen Politik angesichts entfesselter Finanzmärkte wehrt.

Das Primat der Politik

Seit der Reagan- und Thatcher-Ära hat sich der Glaube durchgesetzt, dass Sozialstaaten auf „Sand gebaut“ seien. Die Kompetitivitätskeule wird ausgepackt, der grenzenlose Wettbewerb zwischen Hoch- und Niedriglohnmärkten befeuert und multinationalen Unternehmen nicht mehr auf die Finger geklopft. Höhepunkt dieser Entwicklung war das Liebäugeln sozialdemokratischer Führungskräfte mit dem Unfehlbarkeitsglauben des Neoliberalismus.

Man erinnere an den auf Anthony Giddens basierenden „Dritten Weg“ des „Blairism“ oder die Agenda 2010 von Gerhard Schröder. Beide sind Ausdruck eines kompletten Missverständnisses sozialdemokratischen Regierens. Nicht der Mensch, sondern der Markt steht nun im Vordergrund. Die Abkehr vom Primat der Politik hin zum Diktat der Märkte wird als reformierte Sozialdemokratie gepriesen. Es handelte sich jedoch lediglich um eine Kapitulation gegenüber den Börsen, Ratingagenturen, Banken, Versicherungsinstituten und anderen Marktliberalen. Das Bekenntnis zu einer nicht mehr den Bürgern dienenden Marktwirtschaft hat den Grundstein für die heute in Europa grassierenden Probleme gelegt: Arbeitslosigkeit, Kreditklemmen, schwindendes Vertrauen in die Politik und EU-Institutionen, ausbleibendes Wachstum usw.

Dass die konservativen Kräfte Europas die gleiche Verantwortung an dieser verheerenden Entwicklung tragen, steht außer Frage. Es entspricht jedoch ihrer Handlungslogik. Man erwartet nichts anderes von ihrem Weltbild, dem eine entfesselte Wirtschaftsordnung zugrunde liegt. Umso mehr muss die Frage erlaubt sein, ob die Sozialdemokraten ihr verlorenes Terrain zurückgewinnen können. Haben Europas Spitzenpolitiker den nötigen Mut, den Kasinokapitalismus zu zähmen und der Einflussnahme der Finanzlobby Grenzen zu setzen?

Man kann nur darauf hoffen. Eine gesundes, vielfältiges und demokratisches Europa verlangt Gegenakzente einer progressiven Sozialdemokratie, deren oberste Priorität der Mensch ist – nicht der Markt.