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Zukunftstisch und Realität

Die Feiern zum 100-jährigen Bestehen der freien Gewerkschaften haben eines gezeigt: Dass erstens alles anders kam und zweitens als gedacht. Durch die hundert Jahre ging es auf und ab. Niemand hätte 1916 voraussagen können, wie denn die Welt oder das kleine, überschaubare Luxemburg 20, 30 oder 50 Jahre später aussehen würden.

Und damit sind wir beim Zukunftstisch, einem der neuen Lieblingsthemen der größten Oppositionspartei CSV. Sie will eine nationale Diskussion über die zukünftige Gestaltung des Landes. Luxemburg müsse auf den 1,2-Millionen-Einwohner-Staat vorbereitet werden. Gemeindefusionen müssen kommen, die Renten langfristig abgesichert werden. Wobei der 1,2-Millionen-Einwohner-Staat für 2050 in etwa vorausgesagt wird, vielleicht sogar für den 17. Februar 2046 um 14.43 Uhr, die Gemeinden entweder keine Fusionen wollen oder selber darüber entscheiden möchten und Luxemburg in puncto Rentenabsicherung weltweit einen, wenn nicht den Spitzenplatz innehat.

Dieses Ausrichten des politischen Blickfeldes der CSV auf die mittelfristige Zukunft des Landes überrascht umso mehr, als sie bei der unmittelbaren Zukunft, z.B. der anstehenden Verfassungsreform, weniger Weitsicht an den Tag legt. Statt den mit den drei Regierungsparteien in den letzten 15 Jahren mühsam ausgearbeiteten Text für die neue Verfassung Gegenstand eines Referendums werden zu lassen, lehnt sie nun ein Referendum in der jetzigen Legislaturperiode ab. Dabei könnte sie an Glaubwürdigkeit nur gewinnen, wenn sie noch vor den Wahlen die politische Courage aufbringen und auf der einen Seite während einer Referendum-Kampagne zu einem gemeinsamen Text stehen, auf der anderen Seite dennoch die restliche Regierungspolitik scharf kritisieren würde.

Der mündige, politische Bürger würde diesen feinen Unterschied durchaus erkennen. Was die CSV jedoch nicht zu glauben scheint und daher das Referendum auf die Nachwahlzeit verschieben und vorerst nur mit den Zukunftsängsten der Leute spielen will. Wobei ihr entgangen zu sein scheint, dass Zukunftsängste und Zukunftsängste besonders in Luxemburg zwei Paar Schuhe sind. Während sich nämlich die CSV in hehren Wortgefechten darüber Gedanken machen will, wie denn in 30 oder 40 Jahren das liebe Luxemburg so aussehen könnte, reicht die Zeitspanne der Zukunftsängste vieler Menschen hierzulande leider lediglich bis zum nächsten Tag, allerhöchstens bis zum Monatsende. Des Geldes wegen. Was vor allen Dingen daran liegt, dass die Zukunftsvisionen der politischen Parteien, also auch und besonders der CSV, in der Vergangenheit bereits nicht allzu viel taugten.

So hat auch die CSV z.B. im Jahre 1995 nicht vorausgesehen, dass das Armutsrisiko für Alleinerziehende mit Kindern bis 2015 um 25% steigen würde und Luxemburg mit seinen über 46% in dieser Kategorie heute inzwischen trister AAA-Europaspitzenreiter ist. Genauso wenig wie andere politische Parteien hat die CSV im Jahre 1996 vorausgesehen, dass das generelle Armutsrisiko 2015 landesweit bei 16,4% liegen würde und besonders Minderjährige, Arbeitssuchende und Paare mit zwei oder drei Kindern betroffen sein würden. Ansonsten sie ja sicher etwas dagegen unternommen hätte. Doch nicht nur zehn oder zwölf Jahre schienen schwer vorhersehbar.

Denn offensichtlich hat z.B. keine Partei vorausgesehen, dass die Zahl der Menschen, die in Luxemburg unter der Armutsgrenze leben, von 2011 bis 2012, also binnen nur einem Jahr, um 10.000 auf 78.000 steigen würde. Kurzum: In einem Land, in dem die politischen Parteien, auf zehn Jahre betrachtet, soziale Fehlentwicklungen nicht erkannt und in den Griff bekommen haben und in dem lediglich die freien Gewerkschaften immer so gebetsmühlenartig wie offensichtlich ungehört darauf hinweisen, dass inzwischen jeder 5. Erwachsene und jedes 4. Kind von der Armut bedroht sind, und selbst 10.000 Menschen mit einer 40-Stunden-Arbeitswoche als „arme Arbeitende“ gelten, muten die weitblickenden Zukunftssorgen der größten Oppositionspartei mehr als eigenartig an. Statt mit spekulativem Weitblick: wie wäre es mit dem Hier und Jetzt?