GeschichteWie sich 76 Jahre nach Kriegsende ein Luxemburger Missverständnis in der Gedenkkultur niederschlägt

Geschichte / Wie sich 76 Jahre nach Kriegsende ein Luxemburger Missverständnis in der Gedenkkultur niederschlägt
Zwangsrekrutierte verlassen Luxemburg am 24. oder 26. Oktober 1942  Foto: Roger Weitzel/Photothèque de la Ville de Luxembourg

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Am 12. September 2021 wurden in Junglinster 15 Stolpersteine verlegt, vier für jüdische Opfer, die von Nazi-Deutschland ermordet wurden, nur weil sie Juden waren, und elf für in die Wehrmacht zwangsweise eingezogene und dabei umgekommene Luxemburger. Im Luxemburger Selbstverständnis waren bis vor kurzem Stolpersteine für Shoah-Opfer oder mindestens für Verfolgte des Nationalsozialismus gedacht.

Wir sind uns der Brisanz dieses Beitrags bewusst. Es wird nicht beabsichtigt, einen alten Luxemburger Streit zwischen Resistenz- und Zwangsrekrutierten-Organisationen neu heraufzubeschwören. Es wird auch nicht beabsichtigt, das Andenken an die vielen jungen Luxemburger, die zwangsweise in die deutsche Wehrmacht eingezogen wurden und an der Front ihr Leben lassen mussten, zu minimieren bzw. das Leid ihrer Familien zu schmälern. Der Beitrag soll vielmehr dazu beitragen, eine längst überfällige Debatte anzustoßen. Eine seriöse Debatte kann aber nur geführt werden, wenn die Begriffe, die Gegenstand der Debatte sind, definiert werden, in diesem Fall, wenn der Hauptbegriff „Nationalsozialismus“ (NS) definiert wird. Wir basieren uns dabei auf die Definition der Bundeszentrale für politische Bildung (1). Diese wird hier nur auszugsweise wiedergegeben:

„N. bezeichnet eine politische Bewegung, die in DEU in den Krisen nach dem Ersten Weltkrieg entstand, 1933 die Weimarer Demokratie beendete und eine Diktatur (das sog. Dritte Reich) errichtete. Der N. verfolgte extrem nationalistische, antisemitische, rassistische und imperialistische Ziele, … Der N. war keine geschlossene Lehre, sondern begründete eine ,Weltanschauung‘, in deren Mittelpunkt die Idee des ,arischen Herrenvolkes‘ stand, das sich aller Mittel zu bedienen hat, um sich ,Lebensraum‘ zu schaffen, andere (angeblich minderwertige) Völker und Nationen zu unterdrücken und die Welt vom (angeblich einzig Schuldigen, dem) Judentum zu befreien. Zum ,Rasse‘- und ,Lebensraum‘-Gedanken trat als drittes Element ein fanatischer Antibolschewismus. (…)“

In diesem Beitrag wird versucht, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob Opfer der Shoah, die eigentlich keine Kriegsopfer sind, sondern Opfer von rassistisch-motivierten Gewaltverbrechen, in der Gedenkkultur gleichzustellen sind mit zwangsweise in die Wehrmacht eingezogene Soldaten, die im Kontext von Kriegshandlungen ums Leben kamen.

Vorgeschichte

Gleich nach Hitlers Machtergreifung am 30. Januar 1933 wurden Vorkehrungen getroffen, um die Juden von der sogenannten volksdeutschen Gesellschaft zu isolieren, sie aus öffentlichen Ämtern zu entfernen, ihnen ein eigenständiges Leben innerhalb der deutschen Gesellschaft zu verwehren, sie zu entrechten, zu enteignen, auszubürgern sowie durch gezielte Aktionen zu brutalisieren und durch immer neue Maßnahmen schrittweise zum Verlassen Deutschlands zu zwingen. In einer von Hitler vorgezeichneten zukünftigen europäischen Gesellschaft unter arisch-deutscher Führung sollte es keine Juden mehr geben.

Mit dem Polenfeldzug nahm die brutale Vertreibung und auch bereits die massenhafte Ermordung der Juden im Osten ihren Anfang. Die „Entfernung“ der Juden, die Hitler seit den 1920er Jahren gefordert hatte und die nach seiner Machtübernahme anfänglich in Deutschland und Österreich und später in den eroberten Westgebieten durch forcierte Emigration erreicht werden sollte, nahm im eroberten Osten zunehmend die Form der systematischen Vernichtung – in der Nazisprache: der „Ausrottung“ – an. Später wurde die physische Ermordung von Millionen europäischer Juden als „Endlösung der Judenfrage“ getarnt.

Sofort nach dem Einmarsch in Polen am 1. September 1939 wurden Einsatzgruppen gebildet, die aus Angehörigen der SS, des Sicherheitsdienstes (SD) und der Polizei bestanden und hinter der Front eingesetzt wurden. Sie hatten den Auftrag, u.a. die intellektuelle Elite Polens zu ermorden sowie polnische Zivilisten aus ihren Häusern und Wohnungen herauszuholen und sie weiter nach Osten zu vertreiben. Von diesen mörderischen und rechtswidrigen Maßnahmen waren auch Tausende polnische Juden betroffen.

Auch die Wehrmacht führte diesen Krieg von Anfang an auf eine verbrecherische Weise. „Vor allem aber begann am ersten Kriegstag die massenhafte Gewalt gegen polnische Zivilisten und Kriegsgefangene“, schreibt der Historiker Dieter Pohl. Bis zum 25. Oktober 1939 sollen bereits ca. 20.000 Personen außerhalb von Kampfhandlungen getötet worden sein.(2)

Die Wehrmacht ging besonders brutal gegen die jüdische Zivilbevölkerung vor und verübte erste Massenmorde. „Von Anfang an übernahm die Militärverwaltung in Polen grundsätzliche Aufgaben bei der Verfolgung der Juden, etwa deren zwangsweise Kennzeichnung, gesonderte Registrierung und Entrechtung“, schreibt Pohl. (3)

Am 4. September 1939 verübten Wehrmachtsoldaten eines ihrer ersten Massaker in der polnischen Stadt Częstochowa. Am Boden liegen erschossene jüdische Männer. Die nächsten Todeskandidaten warten auf ihre Exekution.
Am 4. September 1939 verübten Wehrmachtsoldaten eines ihrer ersten Massaker in der polnischen Stadt Częstochowa. Am Boden liegen erschossene jüdische Männer. Die nächsten Todeskandidaten warten auf ihre Exekution.  Foto: United States Holocaust Memorial Museum

Die Absichten der Deutschen bei der „Lösung des Judenproblems in Polen“ blieben der internationalen Öffentlichkeit nicht verborgen. So erschien bereits am 13. September 1939 ein Artikel in der New York Times unter dem Titel „NAZIS HINT ,PURGE‘ OF JEWS IN POLAND“ (dt.: „Nazis deuten ,Säuberung‘ Polens von Juden an“). (4)

Die deutschen Soldaten wurden von Anbeginn des Krieges insbesondere über die „Soldatenzeitung“ gegen die Juden aufgehetzt.

Mit der Invasion der Sowjetunion im Juni 1941 entfesselte sich dann eine bis dato nie dagewesene verbrecherische Energie seitens deutscher staatlicher Gewaltorganisationen. (5) „Sieht man sich die Akteure bei den Massenverbrechen des Deutschen Reiches in toto an, so stellen die Angehörigen der Wehrmacht quantitativ einen erheblichen Teil, wenn nicht sogar die Mehrheit der Verantwortlichen“, schlussfolgert Pohl in seiner bahnbrechenden Studie über die Besatzungspolitik der Wehrmacht in der Sowjetunion. (s. Anm. 2). (6)

Das war also die Armee, in der Tausende Luxemburger Männer der Jahrgänge 1920-1927 ab 1942 dienen mussten.(7) Wie man es auch dreht und wendet, sie gehörten einer verbrecherischen Armee an, sie kämpften für den verbrecherischen deutschen NS-Staat, auch wenn die Rekrutierung zwangsweise geschah. Obwohl sie gegen ihren Willen eingezogen wurden und ihnen vorher gegen ihren Willen die deutsche Staatsbürgerschaft aufgezwungen wurde, bleibt allerdings die Tatsache, dass die Luxemburger Zwangsrekrutierten ihren deutschen Kameraden gleichgestellt waren. So heißt es in § 2 der Verordnung über die Wehrpflicht in Luxemburg vom 30. August 1942: „Die einberufenen Wehrpflichtigen unterliegen den für deutsche Soldaten geltenden Bestimmungen und haben alle Ansprüche, die deutschen Soldaten zustehen.“ (8)

Dies bedeutete auch, dass die Luxemburger Zwangsrekrutierten u.a. dieselbe Grundausbildung für Wehrpflichtige, denselben Lohn sowie ein Anrecht auf dieselben Beförderungen und Auszeichnungen genossen wie ihre reichsdeutschen Kameraden.

Nach dem Krieg kämpfte der Zwangsrekrutierten-Verband während Jahrzehnten für die Anerkennung der „Enrôlés de force“ als „Opfer des Nationalsozialismus“ („Victimes du nazisme“). Warum?

NS-Opfer vs. Kriegsopfer

Juden und andere Kategorien von Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung waren keine Kriegsopfer. Der NS-Staat nutzte lediglich die Kriegssituation aus, um Menschen, die aus rassentheoretischen Gründen oder aus Gründen der politischen Auffassung, des Glaubens oder der Weltanschauung als „volksfeindlich“ angesehen wurden, zu beseitigen.

Der gegenwärtige Beitrag befasst sich mit der größten dieser Opfergruppen: den Juden. Der von Nazi-Deutschland selbst herbeigeführte Krieg diente auch dazu, die Juden aus Ost- und Westeuropa im Osten zu vernichten. Nach der Auflösung von Recht und Staatlichkeit in den eroberten Ostgebieten führte der NS-Staat in quasi rechtsleeren Räumen den größten rassistisch motivierten Völkermord aus, der je auf europäischem Gebiet stattgefunden hat.

Irma Leib aus Junglinster wird mit einem Stolperstein gedacht. Sie wurde in Auschwitz ermordet, weil sie Jüdin war. Ihr Tod hatte mit dem Kriegsgeschehen nichts zu tun.
Irma Leib aus Junglinster wird mit einem Stolperstein gedacht. Sie wurde in Auschwitz ermordet, weil sie Jüdin war. Ihr Tod hatte mit dem Kriegsgeschehen nichts zu tun.  Foto: Bob Goerens

Es war von Staats wegen geplant, im Rahmen der „Endlösung der europäischen Judenfrage“ 11 Millionen Juden zu ermorden. (9) In der Geschichtsschreibung geht man heute von einer Gesamtzahl von ca. 5,7 Millionen jüdischer Menschen aus, die im Rahmen von NS-Gewaltverbrechen ermordet wurden bzw. durch entsetzliche Lebensbedingungen und unmenschliche Zwangsmaßnahmen zu Tode kamen.

Die vom NS-Staat im Kriegskontext begangenen Verbrechen gegen unschuldige, unbewaffnete jüdische Zivilpersonen und die Grausamkeit und Systematik, mit der sie ausgeführt wurden, waren von einer solchen Größenordnung, dass sie sich nach dem Krieg nicht unter den Tatbestand der Kriegsverbrechen fassen ließen.

Dieses in der europäischen Geschichte einzigartige Verbrechen ergab sich aus der Ideologie des Nationalsozialismus (s. Definition am Anfang des Artikels).

Im Rahmen des Nürnberger Prozesses (1945-46)(10) und insbesondere der Nachfolgeprozesse (1946-49) wurden die NS-Gewaltverbrechen unter dem Tatbestand „Crimes against humanity“ (dt.: Verbrechen gegen die Menschlichkeit) abgehandelt. Sie wurden von den „War Crimes“ (Kriegsverbrechen) soweit wie möglich abgegrenzt. Es war Hannah Arendt zufolge gerade „die jüdische Katastrophe“, welche die Alliierten dazu veranlasste, „den Begriff vom ‚Verbrechen gegen die Menschheit‘(11) neu einzuführen“.(12)

Für Hannah Arendt handelt es sich beim Tatbestand „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ nicht bloß um Verbrechen, die „durch keine militärische Notwendigkeit gerechtfertigt werden können“ (Kriegsverbrechen), sondern [um] „Handlungen, die in Wirklichkeit mit der Kriegführung nichts zu tun hatten und für den Fall eines siegreichen Friedens die Fortsetzung der ‚negativen Bevölkerungspolitik‘ also des systematischen Mordens ankündigten“. (13)

René Meyers aus Junglinster wird mit einem Stolperstein gedacht. Er diente zwangsweise in der Wehrmacht und fiel in einer Kampfhandlung an einem Ort, an dem die Wehrmacht zu dem Zeitpunkt Kriegsverbrechen beging.
René Meyers aus Junglinster wird mit einem Stolperstein gedacht. Er diente zwangsweise in der Wehrmacht und fiel in einer Kampfhandlung an einem Ort, an dem die Wehrmacht zu dem Zeitpunkt Kriegsverbrechen beging. Foto: Bob Goerens

Seit den 1950er Jahren bezeichnet die deutsche Justiz solche vom NS-Staat verantwortete Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit dem Begriff „Nationalsozialistische Gewaltverbrechen (NSG)“ und grenzt diese ebenfalls klar von Kriegsverbrechen ab.

Bei der Zwangsrekrutierung handelt es sich nicht um ein solches Verbrechen. Es handelt sich dabei um ein Kriegsverbrechen, um eine Verletzung des zum Zeitpunkt des Zweiten Weltkriegs bestehenden internationalen Kriegsrechts, der sogenannten Haager Landkriegsordnung (1899, 1907)(14). Das internationale Kriegsrecht war und ist Teil des Völkerrechts (International Law).

Das Haager Abkommen besagt, dass es Kriegsführenden untersagt ist „Angehörige der Gegenpartei zur Teilnahme an den Kriegsunternehmungen gegen ihr Land zu zwingen; …“ (Art. 23) und dass es untersagt ist, „die Bevölkerung eines besetzten Gebietes zu zwingen, der feindlichen Macht den Treueid zu leisten“ (Art. 45).

Die Zwangsrekrutierung junger Luxemburger Männer in die Armee der deutschen Besatzungsmacht war folglich eine Völkerrechtsverletzung, die dem Tatbestand „Kriegsverbrechen“ zuzuordnen ist. Von daher waren die Zwangsrekrutierten Opfer eines Kriegsverbrechens.

Victimes du nazisme?

Im Luxemburger Recht wurden in der direkten Nachkriegszeit alle vom NS-Staat während des Kriegs verübten Verbrechen unter dem Begriff „Kriegsverbrechen“ („Crimes de guerre“) subsummiert. Die Straftaten „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Verbrechen des Völkermords“ wurden erst am 27. Februar 2012 in das Luxemburger Strafgesetzbuch eingeschrieben. (15)

Demzufolge konnten die Zwangsrekrutierten von Rechts wegen gar nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt, sondern nur als Kriegsopfer bzw. als Opfer eines Kriegsverbrechens betrachtet werden, was sie auch waren. Dies entspricht auch dem deutsch-luxemburgischen Abkommen zur Wiedergutmachung und Versorgung der Kriegsopfer vom 11. Juli 1959, das am 19. Juni 1961 durch das Luxemburger Parlament ratifiziert wurde. In diesem Abkommen wird klar zwischen Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung („Victimes du nazisme“) und Kriegsopfern („Victimes de guerre“) differenziert. So waren Entschädigungen im Rahmen der Wiedergutmachung ausschließlich für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, so wie sie in § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) von 1953 definiert wurden (16), vorgesehen. Die Zwangsrekrutierten kamen in den Genuss von Versorgungsmaßnahmen für Kriegsopfer.(17)

Und trotzdem taucht seit Anfang der 1960er Jahre in Publikationen der Organisationen der „Enrôlés de force“ immer wieder die Forderung nach offizieller Anerkennung als „Victimes du nazisme“ auf.(18) Im gleichen Atemzug wird gefordert, dass die gefallenen Zwangsrekrutierten offiziell als „Mort pour la patrie“ anerkannt werden sollten.

In diesem Beitrag kann nicht auf diesen Themenkomplex eingegangen werden. Nur so viel sei gesagt, dass 2.752 in deutscher Uniform gefallene junge Luxemburger Männer, die zwangsweise in der Armee des NS-Staates gekämpft hatten, offiziell als „Mort pour la patrie“ anerkannt wurden sowie 56 junge Frauen, die zwangsweise in den Reichsarbeitsdienst bzw. Kriegsdienst eingezogen worden waren und dort ums Leben kamen. (19)

Auch wenn die Zwangsrekrutierten-Föderation den Titel „Victimes du nazisme“ in ihrem Namen führt (20), die „Enrôlés de force“ sich immer wieder als „Opfer des Naziterrors“ und sogar als „Überlebende des Holocaust“ darstellen(21), kann es sich dabei lediglich um eine auf subjektivem Empfinden basierende Selbstdarstellung handeln. Vom geschichtswissenschaftlichen Standpunkt ist diese Darstellung nicht haltbar.

Religiöse polnische Juden werden durch Wehrmachtsoldaten öffentlich gedemütigt. Polen 1942.
Religiöse polnische Juden werden durch Wehrmachtsoldaten öffentlich gedemütigt. Polen 1942.  Foto: United States Holocaust Memorial Museum

Trotz all dieser Erwägungen sollte die Föderation dank eines unglaublichen Drucks auf die Politik es schaffen, dass sie per Gesetz im Jahre 1967 als „Victimes du nazisme“ anerkannt wurden. (22) Ein Gesetz, das aus heutiger Sicht ausschließlich auf politischen Motiven gründen konnte, ungeachtet historischer Tatsachen. Die eigentlichen Luxemburger Opfer der NS-Verfolgung, die Juden, kamen in diesem Gesetz gar nicht vor. Zudem wurde bezeichnenderweise unterlassen, den Begriff „Victime du nazisme“ zu definieren.

Im Zuge dieses Kampfes um Anerkennung als NS-Opfer klang auch manchmal an, die jungen Luxemburger seien in die Wehrmacht eingezogen worden, wegen ihrer Zuordnung seitens des NS-Staates zur „deutsch-arischen Rasse“, und seien allein deshalb schon als NS-Opfer zu betrachten.

Allerdings greift auch dieses Argument zu kurz. Lange bevor es den Nationalsozialismus und den NS-Staat gab, wurden die Luxemburger von deutscher Seite aus unter großem Widerstand seitens der Betroffenen als „deutschstämmig“ bzw. als zugehörig zum deutschen Volkstum gerechnet. (23)

Bei der Besetzung Luxemburgs durch Nazi-Deutschland handelt es sich auch nicht um ein spezifisches nationalsozialistisches Verbrechen, sondern zunächst um eine Völkerrechtsverletzung. Annexionistische Bestrebungen gegenüber Luxemburg gab es nämlich seitens des Deutschen Reiches, lange bevor es den Nationalsozialismus gab, so beispielsweise im Ersten Weltkrieg. (24) Im sogenannten Septemberprogramm von Reichskanzler Bethmann-Hollweg vom 9. September 1914, in dem die Nachkriegspläne Deutschlands für Mitteleuropa formuliert wurden, war vorgesehen, dass Luxemburg seine Souveränität verlieren und deutscher Bundesstaat werden sollte.

Von daher war der De-facto-Anschluss Luxemburgs ans Deutsche Reich im Zweiten Weltkrieg eine Fortschreibung dieser Agenda, auch wenn nach dessen Vollziehung die gleichen menschenverachtenden nationalsozialistischen Gesetze und Verordnungen hier zur Anwendung kamen, die in Deutschland nach Hitlers Machtergreifung erlassen worden waren.

Allerdings wurde Luxemburg nicht mit der Absicht besetzt, um neuen „Lebensraum“ für „Volksdeutsche“ zu erschließen, wie dies in Osteuropa der Fall war. Denn im Nazi-Verständnis waren die Luxemburger „Volksdeutsche“. Und die Wehrpflicht wurde nicht eingeführt, um über diesen Weg das Luxemburger Volk zu dezimieren, auch wenn dieser Vorgang dazu beitragen sollte, Luxemburg als politische Gemeinschaft mit ihrem spezifischen Habitus aufzuheben. Aber macht das aus den Zwangsrekrutierten „Victimes du nazisme“ im Sinne der diesem Beitrag zugrunde liegenden Definition des „Nationalsozialismus“?

Schluss

So groß die Leiden der Zwangsrekrutierten und ihrer Familien auch waren, so bleiben sie für den Verfasser Kriegsopfer (die Gefallenen) bzw. insgesamt Opfer eines Kriegsverbrechens. Sie kämpften für den NS-Staat, wenn auch zwangsweise, und waren deshalb Angehörige einer verbrecherischen Armee. Aber sie waren keine NS-Verfolgte.

Es ist deshalb für den Verfasser falsch, insbesondere in der Gedenkkultur, gefallene Ex-Soldaten der Wehrmacht, eine der Haupttäterorganisationen der NS-Vernichtungspolitik, auf die gleiche Ebene zu stellen mit Menschen, die Opfer dieser Vernichtungspolitik wurden.

Die Stolpersteinverlegung in Junglinster schafft einen bedauerlichen Präzedenzfall. Hier wird ein Opfer-Amalgam geschaffen, der sowohl geschichtswidrig als auch unsensibel gegenüber den Opfern von NS-Gewaltverbrechen ist.

Beenden wir diesen Beitrag mit einem Zitat eines Luxemburger Zwangsrekrutierten, der zusammen mit anderen Luxemburgern im September 1943 an der Räumung des jüdischen Ghettos von Lida in Weißrussland teilnehmen musste: „Unter all den Gräueln, die ich während der mir aufgezwungenen Dienstzeit in der Wehrmacht erlebte, dominiert in meiner Erinnerung die Judenverfolgung.“ (25)

Räumung des jüdischen Ghettos von Lida

Ein Luxemburger berichtet

„Ein langer Eisenbahnzug mit Viehwagen stand im Bahnhof bereit. Etwa 80 Menschen wurden mit ihren Gepäckbündeln in jeden Wagen gezwängt, bevor die Tür geschlossen wurde. Hierbei gab es wieder grausame Szenen. Zwei Männer und ein blutjunges Mädchen wurden auf dem Bahnsteig erschossen. Ein jüdischer Arzt kniete vor einem Verletzten und behandelte seine Schusswunde.
Während die Viehwagen gefüllt wurden, liefen die Männer der SS geschäftig hin und her. Eine Gruppe Offiziere von Wehrmacht und SS stand breitspurig da und redete herrenmenschlich miteinander, zufrieden über die vollbrachte Leistung.
Wohin dieser Transport führte, der ja nur einer von vielen war, haben wir nie erfahren. Ich kann keine Namen der Mörder und keine genaue Zahl der Opfer nennen, nicht einmal das genaue Datum.
Es geschah im Sommer 1943, aber nach 40 Jahren quält mich noch die Erinnerung. Das Leid dieser unglücklichen Menge unschuldiger Menschen kann man nie vergessen.“

(Auszug aus dem Zeugenbericht eines Luxemburger Zwangsrekrutierten, der zusammen mit anderen Luxemburgern an dieser antijüdischen Aktion teilnehmen musste. Die Auflösung des Ghettos von Lida in Weißrussland, von der im Bericht die Rede ist, fand vom 17. bis 19. September 1943 statt. Die „Restjuden“ des Ghettos wurden in ein Vernichtungslager transportiert und dort durch Giftgas ermordet.)


(1) Die Definition befindet sich unter diesem gekürzten Link: https://bit.ly/2VvX8ll
(2) Pohl, Dieter: Die Herrschaft der Wehrmacht, Frankfurt/M 2011, S. 51 3
(3) Ebd., S. 54-55 4
(4) New York Times, 13.9.1939, S. 5. Gekürzter Link: https://nyti.ms/3CcVe9P
(5) „Als staatliche Gewaltorganisationen werden Organisationen wie Armeen, Milizen und Polizeien verstanden, die Gewalt androhen und einsetzen, um staatliche Entscheidungen durchzusetzen“. Kühl, Stefan: Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust, Berlin 2014, S. 22. 
(6) Die Verbrechen der Wehrmacht waren Gegenstand von zwei Ausstellungen, die 1995-1999 und 2001-2004 zu sehen waren. Die zweite Ausstellung wurde in Esch/Alzette im Dezember-Januar 2002/2003 gezeigt. www.woxx.lu/706/ 
(7) Die Wehrplicht wurde durch den Okkupanten in Luxemburg mit Wirkung vom 31.8.1942 eingeführt. Mit Wirkung vom 23.8.1942 wurde Teilen der Luxemburger Bevölkerung, insbesondere den Einberufenen in Wehrmacht und Waffen-SS, die deutsche Staatsbürgerschaft verliehen. Diesbezügliche Anordnungen und Verordnungen In: Livre d’or des victimes luxembourgeoises de la guerre de 1940 à 1945, Luxemburg 1971, S. 556-566 
(8) Livre d’or, S. 560. Dennoch wurden sie, wie auch die Zwangsrekrutierten aus Lothringen und dem Elsass als „Beutegermanen“ angesehen und standen während ihrer Ausbildung unter besonderer Beobachtung der Ausbilder.
(9) Protokoll der am 20.1.1942 in Berlin am Wannsee stattgefundenen Besprechung über die Endlösung der Judenfrage, wiedergegeben in: Poliakov/Wulf: Das Dritte Reich und die Juden, Dokumente und Aufsätze, Berlin 1955, S. 119-126 
(10) Die Siegermächte USA, Großbritannien, Frankreich und Sowjetunion richteten nach dem Krieg in Nürnberg einen Internationalen Militärgerichtshof ein, dem sie die Macht übertrugen, Personen vor Gericht zu stellen und zu bestrafen, die gemäß den Definitionen seiner Satzung Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hatten.
(11) Die offizielle deutsche Übersetzung lautet „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. „Menschlichkeit“ entspricht aber nicht den Begriffen „humanity“ bzw. „humanité“. Deshalb hat Hannah Arendt den Begriff „Crimes against humanity“ mit „Verbrechen gegen die Menschheit“ übersetzt (s. Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem, München/Berlin 2016, S. 374)
(12) Arendt, S. 378
(13) Arendt, S. 377
(14) Haager Landkriegsordnung (1907), Art. 23 u. 45; Volltext unter diesem gekürzten Link: https://bit.ly/3ywtfiV
(15) Code pénal, Art. 136bis (Crime de génocide) ; Art. 136ter (Crime contre l’humanité)
(16) Aktualisierte Fassung des Gesetzes unter diesem gekürzten Link: https://bit.ly/3zfs5Ik
(17) Mémorial A – N° 25, 10.7.1961
(18) Siehe Internetseite www.ons-jongen-a-meedercher.lu
(19) Livre d’or, S. 500-501
(20) Der offizielle Name der Föderation lautet: Fédération des Victimes du Nazisme, Enrôlés de Force (FEDEF)
(21) Publikation der FEDEF: Als Geisel fir Jonglënster, Luxemburg 1991, S. 9
(22) Mémorial A – N° 12, 27.2.1967
(23) Trausch, Gilbert, Du particularisme à la Nation, Luxembourg 1989, S. 319-356
(24) Ebd.
(25) Zeugenbericht über die Räumung des Ghettos bei Lida. Der Bericht liegt dem Verfasser vor

Für die kritische Durchsicht des Entwurfs und Verbesserungsvorschläge bedankt sich der Verfasser insbesondere beim Historiker Paul Dostert.

Dieser Artikel ist in der Samstag/Sonntag-Ausgabe der Luxemburger Tageszeitung Tageblatt am 18./19. September 2021 ohne die Anmerkungen auf den Seiten 7-9 veröffentlicht worden. Sie wurden nachträglich in der Online-Version hinzugefügt

Henri Juda
9. Oktober 2021 - 15.33

merci Här Schwickert ruft mir mol un . dir fannt mech am Telbuch dat Ganzt war menger Méenung no eng vu langer Hand geplangten Provokatioun vun der riedslastescher Fedef . Hätten d'Juden sech gewiert gèint Stolpersteng fir EdF , da wier eng antisemitesch Campagne lassgetröppelt gin , dèi berühmt jiddesch Lobby hät verhönnert dat ons Jongen als Affer vun de Nazien geéiert sollte gin . an si hun sech glat a guer net genèiert dofir eng Dozen Schüler vum Lenster Lycée ze manipulèieren . an dat as dégueulasse . Genau wèi dat geschichtsverfälschend Monument National de la Deportation vun der Hollerecher Gare .

Miette
20. September 2021 - 22.34

@bernard Ich will mich hier nicht beklagen, bin Roma abstämmig. Meine Familie im nahen Ausland kam ohne Todesopfer durch den Zweiten Weltkrieg. Dafür bin ich täglich dankbar. Ihr Beitrag über Stolpersteine ist nicht gerade von Respekt geprägt. Mit friedlichen Grüssen❣❣❣

Schwickert Fred
20. September 2021 - 15.15

@Henri Juda : Der Tageblatt-Redaktion ist bei der Veröffentlichung meines Kommentars vom 19.09.2021 - 19:59 ein Fehler unterlaufen. Ich pflege nämlich sämtliche Artikel, die ich der Redaktion zukommen lasse, mit vollem Namen zu zeichnen. ( ngng ist mir völlig unbekannt ! ) Vielleicht sollte die Redaktion dies richtig stellen. Merci. Schwickert Fred - Differdingen

Wieder Mann
20. September 2021 - 14.56

@DanV:Den Zwangsrekrutierten hatten schon längst ihren Kreuzweg zur Erinnerung (1981) entlang der Sauer in Diekirch Das Thema „Stolpersteine“ und Mitschuld von Luxemburger an Judenverfolgung , deren Vernichtung noch kein Thema waren und die Hände in Unschuld gewaschen wurden.

DanV
20. September 2021 - 13.23

Warum nicht einfach Gedenktafeln für Zwangsrekrutierte? Gunter Demnig setzt die Stolpersteine explizit für zivile Opfer ein, die die Nazis gezielt ausrotten wollten. Sie für Zwangsrekrutierte zu verwenden, ist deplaziert und verfälscht die Symbolik. Ich hoffe, niemand nimmt sich daran ein Beispiel. Die schon gesetzten Steine sollten schleunigst ersetzt werden.

Henri Juda
20. September 2021 - 13.07

ich danke ngng für seine faire Stellungsnahme . Herrn Hottua wollte ich sagen dass die Idee einer grenzüberschreitenden Gedenkkultur auch schon angekrurbelt wurde . Um den 16.10. wird beiderseits der Mosel dem ersten Deportationszug gedacht , der mit rund 500 Juden aus Luxemburg und dem Raum Trier nach Litzmannstadt ging . Nur 13 sollten überleben .

J.Scholer
20. September 2021 - 11.42

@R.Hottua:Äer Froo ass berechtigt, awer wéi laang huet et gedauert bis an Daitschland d’Geschicht vum onwäerten Liewen opgeschaff gin ass. D‘Täeter aus der Medizin sin nom Kriich an „ Amt und Würden“ weidergefuer, wéineg sin gerichtlich belangt gin, vill vun hiren Wierker, deelweis duerech onmenschlecht Handelen haut nach « Standardwerk ».Och vill medizinisch Präeparater vun den Affer geeschteren nach an den Kelleren vun Instituter,Unien,….Bis haut get an Daitschland d‘Thema vum onwäerten Liewen , den Affer net gäeren öffentlech diskutéiert, Denkmäeler fir d‘Affer vun der Medizin nemmen rar, verstoppt oder guer net opdauchen, vill Affer bis haut net réhabilitéiert , net unerkannt sin.

Wieder Mann
20. September 2021 - 11.00

@ngng:Die Zwangsrekrutierten mit den Juden vergleichen sind zwei Paar Schuhe. Definitiv ist es eine Zumutung die Stolpersteine für Zwangsrekrutierte zu legen , wissentlich auch einzelne Zwangsrekrutierte in Polizei - Bataillonen, Partisanenbekämpfung ( dieser Begriff wird Ihnen hoffentlich bekannt sein), Erschiessungen von Juden, Zivilisten beteiligt waren und nicht Opfer sondern Täter waren. Nebenbei bemerkt haben die Zwangsrekrutierten , wenn unbewusst , bewusst der Konsequenzen sie nicht den Mut aufbrachten zu desertieren ,durch ihren Einsatz die Wehrmachtsmaschinerie mit am Laufen gehalten. Etliche Zwangsrekrutierte sind desertiert, haben sich dem Widerstand , den Alliierten angeschlossen , obwohl sie wussten ihre Familien der Repression der Deutschen ausgesetzt seien, sie bei Gefangennahme zum Tode verurteilt würden. Verantwortung übernehmen, auf der richtigen Seite kämpfen war nicht jedermanns Sache.

Robert Hottua
20. September 2021 - 2.28

Guten Tag Herr Lorang, wo bleibt bei Ihren Betrachtungen die Tatsache der kriminellen Propaganda durch das katholische Luxemburger Wort? Mussten nicht alle luxemburger Katholiken aufgrund dieser autoritativen Hassmanipulation alle von den Nazis als lebensunwert eingestuften Menschen foltern und töten? Hatten nicht alle Katholiken eine Mordlizenz? Wann hat sich die katholische Kirche von den Aussagen des Luxemburger Wortes distanziert? Ab September 1942 wurde die Ettelbrücker Anstalt von der Dürener Anstalt aus geleitet. Hier muss eine grenzüberschreitende Gedenkkultur aufgebaut werden. MfG Robert Hottua, Gründer der LGSP (Lux. Gesellschaft für Sozialpsychiatrie)

Schwickert Fred
19. September 2021 - 19.59

@bernard. Das Thema im Beitrag von "Mil Lorang" ist zu ernst, um ein solch Kommentar ihrerseits, hier an dieser Stelle abzugeben. - 2 Onkels von mir, beide Zwillinge und Brüder meiner Mutter, waren zwangsrekrutiert, und mussten in fremder, verhasster deutscher Uniform, an der russischen Front gegen einen unbekannten, ihnen nicht feindlichen Gegner kämpfen. Leon kam nach "Tambow" in ein russisches Gefangenenlager, wo er bis Anfang November 1945 in Haft blieb. Sein Zwillingsbruder Jean erlitt einen Bauchschuss, Granatsplitter waren in seinen Körper eingedrungen. Er wurde schwerverletzt nach Deutschland ins Lazarett gebracht. Dort flüchtete er, trotz der noch nicht verheilten Wunden nach Luxemburg, das noch immer von den Deutschen besetzt war. Er wurde wie viele andere Kriegsdienstverweigerer und Resistenzler in der Niederkorner Erzgrube "Hondsbösch" versteckt gehalten. Beide waren seelisch und körperlich gekennzeichnet, ihr Leben lang. Sie erreichten das Alter von 60 nicht. Was die "Stolpersteine" anbelangt, betrachtete ich sie bis heute als Andenken an die SHOA-Opfer, und finde dies richtig. Natürlich kann man die Verfolgten des Nationalsozialismus mit einbegreifen. Dazu sollte man die Luxemburger-Jüdische-Gemeinschaft um deren Meinung zu Rate ziehen. Meiner Meinung nach wäre eine Trennung zwischen Zwangsrekrutierung und Holocaustopfer jedoch angebracht. Ohne, wie Mil Lorang es in seinem interessanten Beitrag beschreibt (" das Andenken an die vielen jungen Luxemburger, die zwangsweise in die deutsche Wehrmacht eingezogen wurden und an der Front ihr Leben lassen mussten, zu minimieren bzw. das Leid ihrer Familien zu schmälern.

bernard
19. September 2021 - 13.55

Fantastesch. Ech si schonn eng Kéier iwwert esou e 'Stolperstee' gestolpert a mer de klenge Fanger gebrach. De Numm eleng seet jo, dass dat hir Absicht war, wie kann ech do verkloen?