UkraineWie die Menschen aus Odessa Putins Krieg trotzen: „Ich bin hier geboren, ich gehe nicht weg!“

Ukraine / Wie die Menschen aus Odessa Putins Krieg trotzen: „Ich bin hier geboren, ich gehe nicht weg!“
Am 21. März am Stadtrand von Odessa: Ein Mann schaut aus dem Fenster seines nach dem Beschuss durch russische Kriegsschiffe teilweise zerstörten Hauses  Foto: AFP/Oleksandr Gimanov

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Die wichtigste Hafenstadt der Ukraine wird von Osten und dem Schwarzen Meer in die russische Zange genommen.Täglich hagelt es ein paar Raketen, doch die eigensinnigen Odessiten wollen sich nicht ergeben.

Die Statue von Armand Emmanuel Plessis, Fürst von Richelieu, ist von Sandsäcken ganz bedeckt. Das Wahrzeichen von Odessa ganz oben an der dank Sergej Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ bekannten Potemkin-Treppe soll vom Krieg verschont bleiben. Die vor gut 220 Jahren von Kaiserin Katharina der Großen gegründete heutige Millionenstadt am Schwarzen Meer bereitet sich auf die Invasion russischer Besatzungstruppen vor. Diese warten wenige Seemeilen südlich auf Kriegsschiffen, und sie rücken auf dem Landweg von Osten her an.

Die nächtlichen Raketeneinschläge an der Steilküste haben die Odessiten in den ersten Kriegstagen verschüchtert, doch seit gut zwei Wochen geht das Leben insgesamt wieder seinen gewohnten Gang. „Ich gehe nirgendwohin“, sagt die Rentnerin Halina am Telefon. Sie ist gerade beim Einkaufen auf dem „Priwoz“-Markt unweit des Hauptbahnhofs und hat wenig Zeit zum Sprechen. „Hören Sie mir zu, ich bin hier geboren und ich bleibe hier. Ich bete, damit sie nicht hierhin kommen, das ist alles, was ich tun kann“, sagt die frühere Lehrerin.

Gleise zu Sperren

Damit es nicht so weit kommt, hat die ukrainische Armee auch die im Sommer bei den vielen Touristen beliebten Küstenabschnitte vermint. Angestellte der Stadtverkehrsbetriebe und Freiwillige schweißen Tramgleise zu Panzersperren zusammen. Die Stadt macht mobil, auf vielen Gebäuden prangen Graffiti, die einen hellblau-gelben Hooligan mit Baseballschläger zeigen, der ein rotes Hakenkreuz verjagt. Der Faschist ist Putin. Dabei spielt keine Rolle mehr, dass laut Statistik gut jeder vierte Einwohner Russe ist. Und auch nicht, dass Russisch die meistbenutzte Sprache in Odessa ist. Die Stadt, mit ihren mehr als 130 Nationen, ist ein eigener Kosmos. Die meisten sind in erster Linie Lokalpatrioten, doch seit 2014 sind sie auch Ukrainer. Damals hatte sich im Frühling der lokale Euro-Maidan gegen ein pro-russisches Protestlager beim Gewerkschaftshaus durchgesetzt. Es gab 42 Tote, die meisten davon nach einem bisher ungeklärten Brand im pro-russischen Lager.

Mit dabei beim monatelangen Seilziehen zwischen Pro-Europäern und Pro-Russen um Odessa war damals die Lokaljournalistin Alena Balaba. „In Odessa will sich heute niemand mehr den Russen ergeben“, beschreibt sie am Telefon den Stimmungswandel der letzten acht Jahre. „Der russische Angriff bedeutet für mich viel mehr Arbeit, das ist alles“, erzählt die Mittvierzigerin. Die Redaktion arbeite rund um die Uhr, die freien Tage seien entfallen und nach der Arbeit helfe sie der Armee. Seit drei Wochen beendet Balaba jeden Text mit dem Aufruf „Tod den russischen Besatzern!“, und so meint es die zierliche Frau. „Die Russen bombardieren uns jede Nacht ein bisschen, doch noch greifen sie nur militärische Objekte an. Sie wollen uns Angst einjagen, unsere Moral brechen“, sagt Balaba.

Einen großen Anteil daran, dass diese Rechnung Wladimir Putins nicht aufgeht, hat die gut 100 Kilometer östlich gelegene Hafenstadt Mykolajiw. Dort stecken die russischen Invasionstruppen 20 Kilometer vor den Stadtgrenzen im Osten und Norden fest. Letzte Woche haben sie zwar aus der Luft eine Kaserne getroffen und über 50 ukrainische Soldaten getötet, doch die Stadt trotzt den Russen weiterhin. Ein Ausbruchversuch über die Stadt Wosnessensk am strategisch wichtigen Fluss Südlicher Bug, um Odessa von Nordosten her anzugreifen, wurde von der ukrainischen Armee ebenso vereitelt. Inzwischen meldet der Generalstab in Kiew gar einen russischen Rückzug zurück in die immer noch teils umkämpfte Stadt Cherson unweit des Krim-Kanals, der in den ersten Kriegstagen im Handstreich erobert wurde. Am Donnerstag wurde laut Lokalbehörden zwischen Mykolajiw und Cherson eine russische Militärmaschine abgeschossen. An der Oblast-Grenze werde wieder heftig gekämpft.

Auf den Sperren aus Beton in Odessas Innenstadt steht „Liberté, égalité, fraternité“
Auf den Sperren aus Beton in Odessas Innenstadt steht „Liberté, égalité, fraternité“ Foto: AFP/Bulent Kilic

„Wir sprechen von der zweitgrößten Armee der Welt, doch dort stecken sie nun fest“, höhnt Balaba. Auch sie will in Odessa bleiben. „Ich habe eine Tochter, eine Katze, meine Mutter, nein, ich gehe nicht weg.“ Dazu wolle sie mit anderen Volontären, die sie aus der früheren Donbass-Unterstützung kennt, nach Kräften die ukrainische Armee bei Mykolajiw unterstützen. Denn alleine mit einer russischen Amphibienlandung sei Odessa nicht einzunehmen, finden auch die US-Experten von der angesehenen Washingtoner Denkfabrik „Institute for the Study of War“.

Die Löwen im Zoo von Odessa, im einst jüdisch geprägten Kleinkriminellen-Viertel Moldowanka gelegen, verhielten sich ruhig, es ginge ihnen den Umständen entsprechend gut, berichtet die lokale Internetzeitung Dumskaya. Man höhnt dort weiterhin etwas über den Bürgermeister, der 2014 noch zum pro-russischen Lager gehalten hatte, und über dessen Warnung vor der 14. Sowjetarmee im nur rund 50 Kilometer westlich von Odessa gelegenen moldauischen Separatistengebiet Transnistrien. Auch dort unterhält Russland „Friedenstruppen“; niemand weiß genau, wie viele und wie gut sie ausgerüstet sind.

Igor, ein 40-jähriger ukrainischer Soldat, umarmt seine Frau vor seinem Militärkeller im Zentrum von Odessa
Igor, ein 40-jähriger ukrainischer Soldat, umarmt seine Frau vor seinem Militärkeller im Zentrum von Odessa Foto: AFP/Bulent Kilic

Auch Odessa, das geografisch in der Südwestukraine liegt, hat in den letzten drei Wochen Tausende Flüchtlinge aus dem Osten des Landes aufgenommen. Täglich fahren Evakuierungszüge der Ukrainischen Eisenbahn nach Lwiw (Lemberg) und Uschgorod. Die meisten Passagiere stammten aus dem Osten, aber auch vor allem ältere Odessiten fahren laut Balaba in die Westukraine.

„Sonst kommen sie wieder“

Die Stadt verlassen hat auch Julia Balatskaja. „Ich musste meine Tochter in Sicherheit bringen“, erzählt die junge Geschäftsfrau am Telefon aus Bukarest, der Hauptstadt Rumäniens. „Wir sind bald zurück. Wir haben hier bewusst keinen Flüchtlingsstatus beantragt“, sagt die Odessitin, die einen weiten Weg über Kiew und Uschgorod alleine im PKW zurückgelegt hat. „Dank der Hilfe der EU und USA werden wir siegen“, versprüht sie Optimismus. „Sobald es wieder sicher ist in Odessa, kehren wir zurück“, sagt Balatskaja, die über den größten Hafen der Ukraine Kosmetika aus Südkorea importiert.

Von den Friedensgesprächen zwischen der Ukraine und Russland hält Balatskaja wenig. „Die Ukraine kann die sogenannten Volksrepubliken im Donbass und die Annexion der Krim nicht anerkennen. Und sogar dann, wenn die Russen nicht einmal darauf bestehen sollten, dürfen wir uns nicht mehr betrügen lassen wie bei den Minsker Friedensverhandlungen zum Donbass 2015.“ Balatskaja ist alles andere als optimistisch: „Wenn wir jetzt einlenken, dann kommen die Russen in zehn Jahren wieder mit ihrer Armee, aber dann einer besseren.“

Tschetschenen in Mariupol

Tschetschenische Kämpfer haben nach Angaben von Machthaber Ramsan Kadyrow die Kontrolle über das Rathaus der seit Wochen eingekesselten südukrainischen Hafenstadt Mariupol übernommen und ihre Flagge über dem Gebäude gehisst. Im Messengerdienst Telegram veröffentlichte Kadyrow am Donnerstag ein Video, das ein Telefonat des russischen Abgeordneten Adam Delimchanow mit den „tapferen“ tschetschenischen Kämpfern zeigen soll. Er kündigte zudem „Säuberungen“ in Mariupol an.
Mariupol ist seit Wochen von russischen Truppen belagert. Nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj sind fast 100.000 Menschen in der Stadt von jeglicher Versorgung mit Wasser, Essen und Strom abgeschnitten. Das ukrainische Außenministerium schrieb bei Twitter, die russische Armee habe eine „neue Phase des Terrors gegen Mariupol“ gestartet und etwa 6.000 Menschen in russische Lager verschleppt.
Die ukrainische Marine hat nach eigenen Angaben ein im Hafen von Berdjansk vor Anker liegendes russisches Kriegsschiff zerstört. Auf Facebook veröffentlichte das Militär am Donnerstag eine Nahaufnahme des Truppentransporters „Orsk“ sowie zwei Fernaufnahmen, auf denen ein in Brand stehendes Schiff im Hafen von Berdjansk zu sehen ist.
Vier Wochen nach Kriegsbeginn ist die Front nach ukrainischen Angaben „praktisch eingefroren“. Präsidentenberater Olexij Arestowytsch sagte am Donnerstag in Kiew, dem Generalstab zufolge haben die russischen Truppen an den meisten Frontabschnitten keine Ressourcen für weitere Vorstöße mehr. Der Kriegsgegner stehe «praktisch auf der Stelle», betonte Arestowytsch. Man könne nur erraten, wie Russland es schaffen wollte, innerhalb von drei Tagen Kiew einzunehmen.