„Was wird aus uns?“: Der lange Schatten von Rassismus und Ausbeutung

„Was wird aus uns?“: Der lange Schatten von Rassismus und Ausbeutung

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Fotografien von Gesichtern, in die sich das harte Leben in ehemaligen Industriezentren tief eingeprägt hat, oder von unwirtlichen Stadtteilen, trostlosen Randzonen mit Stahlruinen. Mit großem Respekt und Empathie erzählt LaToya Ruby Frazier deren Geschichten. Das Mudam präsentiert sie im Rahmen des „Europäischen Monats der Fotografie“.

Von Martina Kaub

Der entblößte Oberkörper einer jungen Frau bewegt sich im Rhythmus ihrer schweren Atemzüge. Zwischen Aufrichten und Einsinken trifft ihr Blick auf den Betrachter, hält ihn fest, verfolgt ihn. Rauch scheint ihrem Mund zu entweichen. Rauch, wie ihn auf dem Bild neben ihr hohe Schornsteine über eine düstere Dächerlandschaft verteilen.

Dieses dreieinhalbminütige Videodiptychon aus dem Jahr 2010 ist eines der Selbstporträts, die die physische und psychische Inbesitznahme des Individuums und eines ganzen Lebensraums durch die Schwerindustrie eindrücklich ausdrücken. Aufgewachsen in Braddock nahe Pittsburgh, Pennsylvania, erlebt Ruby Frazier den Zusammenbruch einer Region, deren ökonomische Säule lange die Stahlproduktion war. Mit der Kamera dokumentiert sie seit dem 16. Lebensjahr aus der Innensicht den zunehmend fragiler werdenden Zustand ihres Heimatortes und seiner Bewohner, größtenteils Schwarze, vormals als billige Arbeitskräfte ausgebeutet, nun noch stärker systematisch benachteiligt und von institutionellem Rassismus betroffen. Unübersehbar sind die soziopolitischen Implikationen in ihrem Werk.

Offensiv setzt sie sich mit Industrialisierung, Ausbeutung und Diskriminierung auseinander, Themen, die mit ihrer eigenen Biografie untrennbar verbunden sind. Die Schädigung der Gesundheit, verseuchtes Wasser und vergiftete Böden sind Erblasten, die ihre Familie wie unzählige andere in ehemaligen Hochburgen der Stahlindustrie oder des Bergbaus tragen müssen. Hinzu kommt die Erfahrung fehlender Unterstützung, stattdessen von Ablehnung jeglicher Fürsorgepflicht der für das ökonomische und ökologische Desaster Verantwortlichen.

Vor diesem Hintergrund ist ihre Serie „The Notion of Family“ (2001-2014) eine Arbeit, die sowohl für eine ganze Gemeinschaft als auch für jeden einzelnen Betroffenen steht und Frazier als Autorin im Foucault’schen Sinne ausweist. In der Zusammenschau erschließt sich der innere Zusammenhang der Bilder, die auf der Grundlage einer übergeordneten Idee entstanden sind. Doch auch Fragen nach Identität und Herkunft, Rolle und Position innerhalb der Familie finden einen sehr persönlichen bis intimen Ausdruck in Selbstporträts und Bildern mit Großmutter und Mutter. Insofern ist die Serie sowohl ein Familienalbum, ein visuelles Archiv als auch eine sozialgeschichtliche Erzählung.

Sozialdokumentarisch

Stilistisch und inhaltlich knüpft Frazier an Meister der Schwarz-Weiß-Fotografie wie Walker Evans, Dorothea Lange und Gordon Parks an. Diese waren im Rahmen des Hilfsprogramms der Farm Security Administration, gegründet während der Politik des New Deal unter Franklin D. Roosevelt, beauftragt, die Notlage der armen Landbevölkerung zu dokumentieren. Die großformatigen Fotos Fraziers leben von abgeschatteten Schwarz-Weiß-Kontrasten entsprechend der sensiblen, nie voyeuristischen Herangehensweise an das Bildmotiv.

Den sozialdokumentarischen Ansatz hat sie in weiteren Arbeiten realisiert, so auch in der jüngeren Serie, die in Belgien 2016/17 in der Borinage entstanden ist, einer Bergbauregion, die ab den 1950er-Jahren auf Zuwanderung setzte. Von den Porträtierten verfasste Begleittexte erzählen aus subjektiver Perspektive vom Verlassen der Familie, dem Verlust der Heimat, viele auch – genau wie die der amerikanischen Kollegen – von der harten Arbeit, Hitze, Dunkelheit und den Ängsten, die sie beim Hinabsteigen in die Mine befielen: „Travailler à la mine, c’est comme d’être condamné à mort.“ Schließlich gehörten schwere Unfälle und Todesfälle zu ihrem Alltag.

Unglaublich beeindruckend die drei Händepaare alter Männer in Großaufnahme, die zu Antonio, Jean-Claude und Silvio auf dem Triptychon gegenüber gehören. Frazier zeichnet außerdem einzelne gelungene Biografien der Zugewanderten fotografisch nach, hier scheint eine Ahnung von einem anderen, erfreulicheren Leben durch.

Sandra Gould Ford

Die dritte Serie mit dem Titel „On the Making of Steel Genesis: Sandra Gould Ford“ (2017) ist aus der engen Zusammenarbeit mit der Künstlerin, Fotografin und Schriftstellerin Sandra Gould Ford entstanden, die als Sekretärin in einem inzwischen geschlossenen Stahlwerk in Pittsburgh arbeitete.

Ihr kritischer Blick auf Arbeitsbedingungen, Mitbestimmung, Unfälle und Todesfälle veranlasste sie, innerbetriebliche Unterlagen zu sammeln, die in Form von Cyanotypien von Frazier dieser Serie beigegeben wurden. Daneben stehen fotografische Arbeiten von Ford und von Frazier, die Ford mit Bezügen zu ihrem früheren Arbeitsplatz porträtiert hat. Die Ausstellung kommt in einer Zeit, in der Ungleichheiten, Diskriminierung und wirtschaftliche Ausbeutung benachteiligter Bevölkerungsschichten auch in Westeuropa an der Tagesordnung sind und Lebensraum vernichtet wird. Noch bis zum 22. September geöffnet, bietet sie zahlreiche Ansatzpunkte zum Nachdenken, besser noch zur Diskussion.