Kannerjugendtelefon„Überall, wo Kinder und Jugendliche sind, gibt es potenzielle Täter“

Kannerjugendtelefon / „Überall, wo Kinder und Jugendliche sind, gibt es potenzielle Täter“
Kein Kind soll Übergriffe sexueller Art oder Berührungen, die ihm unangenehm sind, aushalten müssen, sagen die Mitarbeiter des „Kannerjugendtelefon“ Symbolbild: Pixabay

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Das „Kannerjugendtelefon“ ist eine erste Anlaufstelle, wenn Kinder und Jugendliche von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Die Mitarbeiter hören erst mal zu und können anschließend orientieren – das alles passiert anonym, um die Betroffenen zu schützen. Ein Interview mit Barbara Gorges-Wagner, Direktionsbeauftragte des „Kannerjugendtelefon“, über sexualisierte Gewalt an Kindern, die Corona-Krise und warum die Erwachsenen genauer hinschauen sollten.

Sexueller Missbrauch an Kindern ist ein Thema, über das niemand gerne redet. Schon die Vorstellung, einem Kind oder Jugendlichen sexualisierte Gewalt anzutun, ist so abscheulich, dass ein jeder den Gedanken daran wieder verdrängt – doch die Tabuisierung und Wegschauen ist ein Teil des Problems: „Jeder Erwachsene hat eine Verantwortung gegenüber den Kindern“, sagt die Direktionsbeauftragte des „Kannerjugendtelefon“ (KJT), Barbara Gorges-Wagner.

Tageblatt: Wer kann sich an das KJT wenden?

Barbara Gorges Wagner: Das „Kannerjugendtelefon“ ist eine nationale Einrichtung, das heißt alle Kinder und Jugendliche können sich daran wenden, sei es per Telefon oder per Kontaktformular auf unserer Webseite. Aber auch Erwachsene, die sich unsicher sind, ob sie mit sexuellem Missbrauch zu tun haben – ganz oft werden uns Situationen gemeldet, bei denen keiner die Vorfälle richtig einordnen kann. Über die „Bee Secure Stopline“ kann man dann auch Darstellungen von sexuellem Missbrauch an Kindern melden.

Das Besondere am KJT ist – und das ist im Bereich von sexuellem Missbrauch nicht zu unterschätzen – dass alle unsere Angebote geschützt sind. Wir fragen nicht nach dem Namen, alles läuft anonym ab.

Warum ist die anonyme Kontaktaufnahme so wichtig?

Manche Kinder oder Jugendliche haben das Gefühl, Mitverantwortung an dem Übergriff zu tragen. Sie schämen sich oft, darüber zu reden, wenn sie von jemandem angegriffen werden. Hier können sie anrufen und sich orientieren – viele Betroffene sprechen mit uns zum ersten Mal über ihre Gewalterfahrung. Anonymität und die damit verbundene Niedrigschwelligkeit sind dafür eine große Hilfe. So behält das Kind die Hebel in der Hand und bestimmt, in welche Richtung das Gespräch gehen soll.

Das Wegschauen ist ein Teil des Problems, sagt Barbara Gorges-Wagner vom „Kannerjugendtelefon“
Das Wegschauen ist ein Teil des Problems, sagt Barbara Gorges-Wagner vom „Kannerjugendtelefon“ Foto: Editpress/Tania Feller

Kinder oder Jugendlichen sollen mit der Anonymität-Garantie somit ermutigt werden, über ihre Erfahrungen zu reden?

Genau. Im Bereich der Gewalt gibt die Gesetzeslage vor, dass ein Erwachsener, wenn er von einem solchen Tatbestand mit strafrechtlicher Relevanz erfährt, das melden muss. Da wird ein Prozess in Gang gesetzt, bei dem die Betroffenen schnell die Kontrolle verlieren. Deshalb ist es wichtig, dass wir als Gesprächspartner bereitstehen, bevor Dinge ihren Lauf nehmen, für die es einfach noch zu früh ist für die Misshandelten. Kinder und Jugendliche müssen oft erst über das Geschehene sprechen, bevor alles eine Eigendynamik entwickelt. Es wird weder gewertet noch bewertet, es wird ganz neutral darüber gesprochen – und es liegt in der Hand des Anrufers, das Gespräch wieder zu beenden. Es wird deutlich zu verstehen gegeben, dass kein Kind in Luxemburg Übergriffe sexueller Art oder Berührungen, die ihm unangenehm sind, aushalten muss.

Die Mitarbeiter werden nie selbst aktiv. Auch das passiert zum Schutz – in einer solchen Krisensituation darf nicht vorschnell gehandelt werden.

Barbara Gorges-Wagner, Direktionsbeauftragte des KJT

Was passiert, wenn sich das Kind selbst zu erkennen gibt?

Sowohl die Kinder als auch unsere Mitarbeiter sind geschützt. Wir sehen keine Namen, keine Telefonnummer, nichts. Und selbst wenn ein Kind versehentlich seinen Namen nennt, findet das Gespräch ab dem Zeitpunkt außerhalb des Protokolls statt. Wir verweisen Kinder aber gerne an weitere Organisationen wie das „Planning familial“. Wir selbst unternehmen aber nichts – der Betroffene soll selbst entscheiden, wie es weitergeht.

Wie viele Anrufe hat das KJT im vergangenen Jahr erhalten?

Im Kontext von sexuellem Missbrauch gab es im vergangenen Jahr 34 konkrete Anrufe. Das ist statistisch jedoch nicht immer ganz leicht zu erfassen, da sich viele Fälle überschneiden. Gerade im Bereich von Gewalt überlappen sich die Gebiete oft. Auf unserer Stopline haben wir 2019 insgesamt 3.029 Meldungen von Links bekommen, die wir nach Luxemburger Recht auf Darstellungen sexuellen Missbrauchs prüfen.

Haben Sie während des Lockdowns einen Anstieg an Anrufen oder spezifischen Problemen festgestellt?

Ein Anstieg war während des Lockdowns für uns nicht festzustellen. Dazu muss man aber sagen, dass die Familie isoliert war und es für die Kinder somit schwieriger war, sich nach außen zu wenden. Wir hatten jedoch vermehrt Anrufe, bei denen die Atmosphäre innerhalb der Familien teilweise sehr angespannt war. Vereinzelt hatten wir auch Anrufe darüber, dass es Übergriffe innerhalb der Familie gegeben hat – zum Beispiel von älteren Geschwistern, die die jüngeren mit sexuellen Inhalten konfrontiert haben, die das eigentlich nicht sehen wollten.

Gewalt an Kindern während des Lockdowns

Zwischen dem 13. März und dem 13. Juli 2020 sind 75 Verfahrensprotokolle wegen Gewalt gegen Minderjährige eingereicht worden. Im Vorjahr waren es noch 156. Das teilt das Justizministerium mit. Der Rückgang lasse sich dadurch erklären, dass „die Kinder während des Lockdowns weder Schule noch Betreuungs- oder Freizeiteinrichtungen besuchten, in denen verdächtige Spuren hätten entdeckt werden können“, erklärt das Ministerium.
Tatsächlich meldet Europol einen signifikanten Anstieg der Aktivitäten im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch und sexueller Ausbeutung von Kindern während des Covid-19-Lockdowns, sowohl im für die Mehrheit zugänglichen „Surface Web“ als auch im „Dark Web“. In Luxemburg wurden im April 2020 fast 400 Aufrufe von kinderpornografischem Material gemeldet. Zum Vergleich: Im Vorjahr wurden im gleichen Zeitraum weniger als 50 Vorfälle gezählt.

Wie verhält sich das KJT, wenn Betroffene von konkreten Übergriffen berichten?

Die Mitarbeiter werden nie selbst aktiv. Auch das passiert zum Schutz – in einer solchen Krisensituation darf nicht vorschnell gehandelt werden. Es kann dann schon passieren, dass das kein gutes Ende nimmt. Ein Kind kann von seiner Familie getrennt werden, obwohl es überhaupt erst mal nur darüber sprechen und sich orientieren will.

Wir sprechen den Betroffenen Mut zu – denn der Anruf an sich kostet schon viel Überwindung. Wir fragen dann auch genauer nach: Was ist genau passiert? Was hat das Kind unternommen, um der Situation zu entfliehen? Dann folgt die Orientierung: Ein Übergriff fängt schon da an, wenn ein Kind berührt oder geküsst wird, obwohl es Nein gesagt hat.

Wo kommt es am häufigsten zu Übergriffen?

In den meisten Fällen kommt es innerhalb der Familie zu solchen Übergriffen. Das Kind kennt also den Täter, was es umso schwieriger macht. Mit dem Täter hat man bis zu dem Vorfall vielleicht eine sehr liebevolle Beziehung gepflegt – im Rahmen dessen die Täter sich das Vertrauen der Kinder erschleichen, um es zu manipulieren. Oft sind Geschenke im Spiel oder aber Drohungen. Für das Kind ist es dann sehr schwierig, sich abzugrenzen.

Aber im Prinzip ist es so: Überall, wo Kinder und Jugendliche sind, gibt es potenzielle Täter. In dem Fall ermutigen wir die Kinder, sich eine Vertrauensperson im Umfeld zu suchen, zum Beispiel Lehrpersonal oder jemanden im Sportverein. Wir suchen dann gemeinsam mit dem Betroffenen nach Lösungsmöglichkeiten.

Im Durchschnitt braucht ein Kind zehn Anläufe, bis es von einem Erwachsenen in der Hinsicht ernst genommen wird


Barbara Gorges-Wagner
, Direktionsbeauftragte des KJT

Was passiert, wenn sich ein Kind dazu entschlossen hat, weitere Schritte zu unternehmen?

Wir versuchen dann, zu erreichen, dass das Kind oder der Jugendliche einen Erwachsenen an der Hand hat, den es kennt. Mittlerweile gibt es für das Thema ein größeres Bewusstsein, aber im Durchschnitt braucht ein Kind zehn Anläufe, bis es von einem Erwachsenen in der Hinsicht ernst genommen wird. Unsere Mitarbeiter sind darin geschult, zuzuhören und nicht zu bagatellisieren. Die Erfahrung der Kinder soll nicht einfach weggeredet werden.

Wie werden die Mitarbeiter geschult?

Unsere Mitarbeiter haben alle eine Basisausbildung in Gesprächsführung und systemischem Denken. Hinzu kommen Fortbildungen über verschiedene Themen: Gewalt, Suizid, sexueller Missbrauch, Mobbing, selbstverletzendes Verhalten.

Was muss in Luxemburg im Hinblick auf Prävention sexualisierter Gewalt noch verbessert werden?

Im Bereich Prävention kann nie genug getan werden. Vor allem aber ist es wichtig, hinzuschauen. Wenn etwas wie sexueller Missbrauch passiert, ist es wichtig, dass das erkannt wird. Kinder reden oftmals nicht direkt und da müssen wir als Erwachsene sensibel darauf reagieren. Nicht jede Berührung ist gleich sexueller Missbrauch, aber wir müssen uns damit befassen und immer im Hinterkopf behalten, dass es eben doch sexueller Missbrauch sein kann.

Der nordrhein-westfälische Innenminister hat bezeugt, dass mehr Missbrauchsfälle entdeckt wurden, als mehr Personal eingestellt wurde. Die Frage, die ich mir also stelle: Könnte das nicht auch in Luxemburg der Fall sein? Grundsätzlich sollte aber jeder Erwachsene sich seiner Verantwortung bewusst sein.

Keine Spezialeinheit für Kinderpornografie

Eine Spezialeinheit bei der Polizei, die sich sowohl um den Bereich der Kinderpornografie als auch um andere illegale Aspekte im „Dark Web“ kümmert, gibt es zurzeit nicht. Ein solches Konzept wurde wegen Personalmangels noch nicht umgesetzt. Das geht aus einer Antwort der Justizministerin Sam Tanson auf eine parlamentarische Frage hervor. Die Luxemburger Regierung benutzt hingegen zwei Methoden, um gegen die Verbreitung und Produktion kinderpornografischer Videos vorzugehen: Sensibilisierungskampagnen und die strafrechtliche Verfolgung in Zusammenarbeit mit Bee Secure, Europol und Interpol. Verdächtige Links werden an die Luxemburger Staatsanwaltschaft weitergeleitet, die dann weitere Maßnahmen ergreifen kann, um die Quelle zu entfernen und gegebenenfalls ein strafrechtliches Verfahren einzuleiten.