Ein RückblickMichail Gorbatschow – der gescheiterte Revolutionär

Ein Rückblick / Michail Gorbatschow – der gescheiterte Revolutionär
Der ehemalige sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow beim Zeitungsinterview mit der „Chicago Tribune“ im Jahr 1999 Foto: dpa/John Kringas/Chicago Tribune via

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Mit Michail Gorbatschow ist eine Persönlichkeit verstorben, die einerseits größte Bewunderung und Hoffnungen erweckt, andererseits maßlos enttäuscht hatte. Unser Autor Lucien Montebrusco hat die Zeit hautnah miterlebt. Hier blickt er zurück. 

Nach den langen Jahren des Stillstands, des sastoj, wie diese Periode unter dem ehemaligen Generalsekretär Leonid Breschnew und seinen glücklosen und senilen Nachfolgern genannt wurde, wehte mit Michail Gorbatschow ein frischer Wind durch die Flure des allmächtigen Zentralkomitees der KPdSU am Alten-Platz unweit des Moskauer Kremls.

Gorbatschow wollte die UdSSR modernisieren, umbauen (perestrojit), nicht auflösen oder liquidieren, genauso wenig wie die Idee des Sozialismus in seinem Land. „Natürlich war die Unzufriedenheit darüber, wie sich die Dinge in den letzten Jahren bei uns entwickelt haben, ein wichtiger Grund für uns, die Perestroika in Angriff zu nehmen. Doch in weit größerem Maß war es die Erkenntnis, dass die Möglichkeiten des Sozialismus zu wenig genutzt worden waren“, schrieb er in seinem 1987 erschienenen, insbesondere an das westliche Publikum gerichtete Buch „Perestroika. Die zweite russische Revolution. Eine neue Politik für Europa und die Welt“.

Begeisterung von allen Seiten

Mit seinen Vorstellungen einer modernen UdSSR gewann Gorbatschow zu Beginn seiner Amtszeit nicht nur in seinem Land viele Anhänger. Im sogenannten Westen begeisterten sich erklärte ideologische Gegner für den Neuen an der Spitze, genauso wie Kommunisten und andere Linkskräfte, die in diesem Land trotz seiner Mängel eine Alternative zum Kapitalismus sahen. Erstere erhofften sich die Beseitigung des politischen Gegners mit friedlichen Mitteln, die anderen eine Stärkung eines Gesellschaftssystems, das sozial gerechter schien, und dessen offensichtliche Fehler wie unterdrückte Meinungsfreiheit und chronisches Warendefizit Gorbatschow beseitigen wollte.

Zum Rücktritt gezwungen: Michail Gorbatschow im Parlament in Moskau im August 1991 mit Boris Jelzins Dekret, das die KPdSU in der sowjetischen Teilrepublik Russland verbot
Zum Rücktritt gezwungen: Michail Gorbatschow im Parlament in Moskau im August 1991 mit Boris Jelzins Dekret, das die KPdSU in der sowjetischen Teilrepublik Russland verbot Foto: AP/dpa/Boris Yurchenko

Gorbatschow war nicht der Totengräber der UdSSR. Als solchen sollte sich später sein Nachfolger an der Spitze Russlands, Boris Jelzin, gebärden. Jener machthungrige, nachtragende, Gorbatschow öffentlich demütigende Jelzin, der zusammen mit den damaligen Spitzen der Ukraine und Belorusslands in bierseliger Atmosphäre im Dezember 1991 mit einem Federstrich die Auflösung der UdSSR beschlossen und stattdessen auf eine lockere Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) setzten. Und das, obwohl drei Viertel der Sowjetbürger bei einem Referendum am 17. März 1991 die Frage „Halten Sie es für notwendig, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken als eine erneuerte Föderation gleicher souveräner Republiken zu erhalten, in der die Rechte und Freiheiten einer Person jeder Nationalität uneingeschränkt garantiert werden?“ mit Ja beantwortet hatten. Dass Gorbatschow den Zerfall des Vielvölkerstaates ablehnte, hatte er noch am 13. Januar 1991 verdeutlicht, als er Spezialkräfte nach Vilnius entsenden ließ, um die litauische Unabhängigkeitsbewegung zu zerschlagen.

Dass das Riesenland nicht wie bisher weiter leben und wirtschaften konnte, hatten lange vor Gorbatschow und anderen Politbüromitgliedern bereits renommierte Akademiker festgestellt. Zu groß wurde der Rückstand des Landes in wichtigen wissenschaftlich-technologischen Bereichen, insbesondere auf jenem Gebiet, das die Welt wie kaum ein anderes revolutionieren sollte – die Informatik. Wissenschaftliche Entdeckungen und Erfindungen ließen sich nicht in die Zwangsjacke strenger Fünfjahrespläne zwängen, in volkswirtschaftliche Entwicklungsprogramme, die mehr auf Quantität denn auf Qualität setzten. Dementsprechend war auch die Warenproduktion, die die meisten damaligen sowjetischen Betriebe verließ, verglichen mit den Erzeugnissen ausländischer Konkurrenten, hoffnungslos veraltet, auch wenn sie durchaus ihre Dienste erfüllte.

Gorbatschows Ideengeber aus Akademgorodok

Gorbatschows Verdienst ist es, den Rat seiner Wissenschaftler zu Herzen genommen zu haben. Die Ideengeber seiner neuen Revolution saßen in Akademgorodok bei Nowosibirsk, einem der wichtigsten Wissenschafts- und Forschungszentren des Landes. Die bekannteste Stichwortgeberin war die Soziologin und Meinungsforscherin Tatjana Saslawskaja, die 1983, zwei Jahre vor Gorbatschows Wahl zum Generalsekretär der KPdSU, „ein Programm tiefgreifender sozialer, politischer und wirtschaftlicher Reformen, Perestroika“ vorgestellt hatte.

Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (2.v.r.) und der damalige Generalsekretär des ZK der KPdSU, Michail Gorbatschow (l.), am 10. Februar 1990 in Moskau
Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (2.v.r.) und der damalige Generalsekretär des ZK der KPdSU, Michail Gorbatschow (l.), am 10. Februar 1990 in Moskau Foto: dpa/Martin Athenstädt

Leider scheiterten Gorbatschows Umbauversuche. Womöglich hatte er die Kräfte unterschätzt, die seine Öffnung der Wirtschaft für die Privatinitiative freisetzte. Auch mehr als siebzig Jahre Sowjetunion konnten die Gier nach materiellen Werten, das Streben nach hemmungsloser Bereicherung auf Kosten anderer nicht beseitigen – trotz herausragender Leistungen der UdSSR in Kultur und Bildung. Der Übergang von staatlicher Kontrolle nahezu aller Lebensbereiche in eine jeglicher Regeln baren Gesellschaft stürzte das Land in ein wirtschaftliches Chaos.

Sehnsucht nach der „guten, alten Sowjetunion“ haben vor allem jene, die die kleinen, aber wichtigen Vorteile wie unentgeltliche Schulbildung und Gratisstudium, flächendeckendes medizinisches Angebot noch selbst kennen gelernt und die Chaosjahre ab Ende der 1989er Jahre am eigenen Leib gespürt haben. Wer sich heute vor allem mit Smartphones und sozialen Medien zufriedengibt, vermisst die alte Kulturnation nicht.

Filet de Boeuf
1. September 2022 - 17.37

Privatinitiative ist ein geiles Wort. Macht mal einen Artikel, wie Privatinitiative mit Kapital zusammenhängt. Hätte ich ein paar Millionen auf der Seite, würde ich auch Privatinitiative zeigen. Hier im Westen hat auch noch keiner kapiert, dass die Erbschaften für die dicksten Ungerechtigkeiten verantwortlich sind.