Krieg um Berg-KarabachSüdkaukasus-Experte Sergej Markedonow erklärt Moskaus offizielle Haltung

Krieg um Berg-Karabach / Südkaukasus-Experte Sergej Markedonow erklärt Moskaus offizielle Haltung
Wie auf dem Militärfriedhof in Yerewan wird auch auf aserbaidschanischer Seite an neuen Gräbern um die Gefallenen getrauert – um den Krieg zu beenden, hält Südkaukasus-Experte Markedonow Zugeständnisse auf beiden Seiten für nötig Foto: AFP/Karen Minasyan

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Die Feuerpause am Wochenende hielt nur kurz. Aserbaidschan setzt seine Angriffe auf Berg-Karabach und die armenischen Verteidigungslinien fort. Mit der Einmischung der Türkei droht ein regionaler Konflikt. Moskau ist alarmiert. Als führender wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Euro-Atlantische Sicherheit am MGIMO (Moskauer Institut für Internationale Beziehungen, Diplomaten-Kaderschmiede) ist Sergej Markedonow der russische Südkaukasus-Experte, der Moskaus offizielle Haltung erklären kann.

Tageblatt: Die Außenminister Armeniens und Aserbaidschans haben unter russischer Vermittlung eine Feuerpause in Berg-Karabach vereinbart. Warum dauerte es zwei lange Wochen, bis es erstmals zu einem Treffen der Kriegsparteien kam?

Sergej Markedonow: Die derzeitigen Kampfhandlungen waren tatsächlich die längsten seit dem Waffenstillstand 1994. Grund ist die Kriegsdynamik. Aus Aserbaidschans Blitzkrieg wurde nichts. Man eroberte einzelne Territorien – aus Bakus Sicht nicht genug. Armenien hat sich nicht schlecht geschlagen, aber seine Mobilisierungsressourcen sind beschränkt. Keine der beiden Seiten kann einen eindeutigen Sieg erringen. Deshalb kam man nun zusammen. Denn jeder Krieg endet mit einem Frieden. Die Frage ist nur, wann der Zeitpunkt gekommen ist, das einzusehen.

Die Feuerpause ist bereits kurz nach Inkrafttreten brüchig.

Ein Frieden wird nicht schnell erreicht werden. Seit 1994 sehen wir eine Pendelbewegung: Eskalation, Verhandlungen, Eskalation, Verhandlungen. Aber den Tod der Minsk-Gruppe auszurufen (Friedensverhandlungen im Rahmen der OSZE, Anm.), ist verfrüht. Die Minsk-Gruppe ist ein Totgesagter, der noch viel leisten wird. Wir haben kein besseres Format. Die Vermittler können Kompromisse vorschlagen. Aber die Konfliktparteien müssen dazu bereit sein.

Daran mangelt es aber.

Es stellen sich stets dieselben Fragen: der Status von Berg-Karabach, die Problematik der von Armenien zusätzlich eroberten (aserbaidschanischen, Anm.) Bezirke, die territoriale Verbindung Karabachs mit Armenien. Aserbaidschan muss einsehen, dass es eine Rückkehr zur einstigen territorialen Integrität nicht geben wird. Armenien muss einsehen, dass es die eroberten Bezirke nicht behalten kann. Beide Seiten müssen Zugeständnisse machen.

Welches Risiko stellen die auf aserbaidschanischer Seite eingesetzten islamistischen Söldner für das Konfliktgeschehen dar?

Längerfristig sind sie eine ernsthafte Gefahr – nicht nur für das sekuläre Regime in Baku, sondern auch für Georgien, den russischen Nordkaukasus und schließlich für die Türkei. Sie sind eine internationale terroristische Gefahr für die ganze Region. Karabach stellt heute eine globale Herausforderung dar: Dem Westen gefällt der russische Revisionismus nicht. Russland ist unzufrieden mit der westlichen Dominanz nach 1991. Dabei vergessen wir, dass dritte Mächte aufsteigen können, für die Russland und der Westen gleichermaßen Feinde darstellen. Russland und der Westen können kooperieren – aber mit nahöstlichen Terroristen funktioniert das nicht.

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Was hindert den Westen und Russland an einer solchen Kooperation?

Russland als Feindbild des Westens funktioniert einfach sehr gut. Warum muss man ausgerechnet jetzt Sanktionen gegen Moskau einführen? Wenn der Westen glaubt, dass sich die russische Außenpolitik dadurch ändert, irrt er. Sogar der im Westen so beliebte Alexej Nawalny als russischer Präsident würde die Krim nicht wieder hergeben. Was wir brauchen, ist ein ernsthafter Dialog über die internationale Sicherheit.

Die auf aserbaidschanischer Seite eingesetzten islamistischen Söldner sind eine internationale terroristische Gefahr für die ganze Region

Wie beurteilt Moskau die erstarkende Rolle Ankaras?

Natürlich gibt es Befürchtungen. Man drückt sich nach außen hin vorsichtig aus, da es zwischen Moskau und Ankara viele gemeinsame Interessen gibt.

Bei der aktuellen Eskalation in Berg-Karabach hatte man den Eindruck, dass Moskau sich zögerlich verhielt. Wie erklären Sie Moskaus Position?

Manche im Westen hätten gern gesehen, dass es zum großen Clash mit der Türkei kommt. Russlands Position wird im Westen vereinfacht: Als wolle Moskau immer irgendetwas erobern. Dem ist nicht so. Die Republik Berg-Karabach existiert nicht in der russischen außenpolitischen Konzeption. Wir sind Verbündete Armeniens, aber nicht darin, was den Konflikt mit seinen Nachbarn betrifft. Wir unterstützen Jerewan, aber nicht seine territorialen Ambitionen.

Würde Russland nur Armenien unterstützen, würde aus Aserbaidschan ein zweites Georgien – angesichts Bakus besonderem Verhältnis zum NATO-Land Türkei wäre das sehr gefährlich

Diese neutrale Haltung verwundert den Westen, wo doch Moskau andernorts selbst territoriale Ansprüche umgesetzt hat. Die Krim-Annexion zum Beispiel.

Die russische Politik schiebt gern scharfe Entscheidungen hinaus. Was die Krim betrifft: Moskau hätte sich die Halbinsel schon in den 90ern holen können. Das hat man nicht getan. Man tat es erst, als die Dinge sehr schlecht standen, die russische Schwarzmeerflotte bedroht war. Das ist die russische strategische Kultur: Wenn der Feind ein paar Kilometer vor Moskau steht, setzt es eine sehr deutliche Reaktion.

Warum die Unterstützung für Lukaschenko in Belarus, wo es friedliche Proteste gibt?

Zunächst: Mir gefällt diese eindeutige Unterstützung nicht. Aber die Logik kann ich verstehen. Immerhin ist Belarus im gemeinsamen Sicherheitsbündnis OVKS. Was, wenn die hübschen Demonstrantinnen Belarus in die NATO führen? Eine Grenze mit der NATO bei Smolensk wäre sehr schlecht für Russland – man erinnere sich nur an 1941, wo die Wehrmacht in Smolensk stand. Das historische Gedächtnis spielt eine große Rolle.

Noch einmal zum Südkaukasus. Da ist für Moskau also ein ganz anderer Algorithmus am Werk?

Genau. Weder Armenien noch Aserbaidschan wollen in die NATO. Beide Seiten wollen gute Beziehungen zu Russland. Würde Baku sagen, wir wollen in die NATO, Russland ist ein Feind – dann wäre die Reaktion eine andere. Warum soll man sich Feinde machen, wenn es keine gibt? Würde Russland nur Armenien unterstützen, würde aus Aserbaidschan ein zweites Georgien – angesichts Bakus besonderem Verhältnis zum NATO-Land Türkei wäre das sehr gefährlich. Moskau kann hier keine einseitige Politik fahren. Man reagiert eher auf die äußere Lage. Der Westen glaubt stets, der Kreml habe eine große Strategie. Ich wäre froh, wenn das stimmen würde – aber dem ist nicht so.

Sergej Markedonow
Sergej Markedonow Foto: MGIMO