IrlandPolitologin über die Zukunftsaussichten des neuen Premierministers: „Die Zeit läuft gegen ihn“

Irland / Politologin über die Zukunftsaussichten des neuen Premierministers: „Die Zeit läuft gegen ihn“
Die Irin Reidy lehrt am renommierten University College im westirischen Cork

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Das irische Parlament hat am Dienstag Simon Harris von der Mitte-rechts-Partei Fine Gael zum Regierungschef gewählt. Der bisherige Amtsinhaber Leo Varadkar war im vergangenen Monat überraschend zurückgetreten. Mit der Politologin Theresa Reidy führten wir dazu folgendes Gespräch.

Tageblatt: Frau Dr. Reidy, in Irland hat der Premierminister gewechselt. Kann Simon Harris mehr sein als eine Übergangslösung?

Theresa Reidy: Die Legislaturperiode dauert höchstens noch zehn Monate. Irland hat erhebliche langfristige Probleme, vor allem die Wohnungsknappheit und das Gesundheitssystem. Es fällt mir schwer zu glauben, dass Harris diese in so kurzer Zeit noch anpacken kann. Er braucht Siege, aber die Zeit läuft gegen ihn.

Gibt es kurzfristige Verbesserungsmöglichkeiten?

Ja, das denke ich schon. Der irische Staat hat zurzeit Geld in der Kasse, insofern geht es Harris besser als vielen seiner Vorgänger. Und es gibt eine Reihe berechtigter Anliegen, die mit überschaubaren Beträgen gelöst werden könnten. Zum Beispiel brauchen die Bauern Hilfe, um ihre schweren Verluste durch die sehr regenreichen vergangenen Monate auszugleichen. Kleinunternehmern hat die Koalitionsregierung zuletzt eine Reihe neuer Vorschriften aufgebürdet. Deren Einführung könnte pausiert werden, oder man gewährt kleineren und mittleren Betrieben einen finanziellen Ausgleich.

Beide Gruppen zählen zur Klientel der konservativen Fine Gael, deren Vorsitzender Harris jetzt geworden ist.

Er würde seiner Partei helfen, aber damit wäre auch der Regierung geholfen. Was er sicher nicht über Nacht schaffen kann, ist der Bau neuer Häuser. Bisher bestand der Plan, jährlich sollten 33.000 neue Wohneinheiten entstehen. Jetzt sollen es 50.000 werden. Aber das sind einstweilen eben nur Pläne.

Die Opposition, angeführt von der nationalpopulistischen Sinn Féin (SF), hält die Koalition aus Fine Gael (FG), der nationalliberalen Fianna Fáil und den Grünen für abgewirtschaftet und fordert Neuwahlen. Den Umfragen zufolge käme es dann zu einem Machtwechsel.

Das sehe ich nicht so eindeutig. Die sehr guten Umfragewerte für SF sind zuletzt gesunken. Eine Alleinregierung kann man beinahe ausschließen. Und es sieht so aus, als würde SF viele Stimmen von den kleineren Gruppierungen auf der politischen Linken absaugen. In jedem Fall bräuchte die SF-Vorsitzende Mary Lou McDonald für eine Regierungsbildung mindestens einen großen Partner. Das wäre wohl am ehesten Fianna Fáil.

Mit Harris hat ein 37-Jähriger den auch erst 45-jährigen Leo Varadkar als Partei- und Regierungschef abgelöst. Wird Irlands Politik immer jugendlicher?

Ach, nein, das ist kein Trend. Varadkars FG-Vorgänger Enda Kenny kam 2011 mit knapp 60 ins Amt, das gleiche Alter hatte Micheál Martin von Fianna Fáil, der zwischen 2020 und 2022 Taoiseach, also Premierminister war. Und Frau McDonald wird demnächst 55.

Von außen betrachtet wirkt Varadkars Rückzug rätselhaft. Stand er privat oder politisch unter Druck?

Das war jedenfalls nicht erkennbar. Sie müssen bedenken, dass er seit 2017 als Premier und Vizepremier in einer Permakrise regiert hat. Irland hatte sich gerade wirtschaftlich von der Finanzkrise und schweren Rezession erholt, da stimmten die Briten für den EU-Austritt. Der Brexit war für Irland eine wirklich existenzielle Bedrohung, Varadkar trug stark dazu bei, dass es zu einem guten Kompromiss kam. Kaum war der Brexit vollzogen, brach die Covid-Pandemie über uns herein. Und nun Russlands Krieg gegen die Ukraine, mit den zahlreichen Flüchtlingen und den Fragen zu Irlands Neutralität. Also, ehrlich gesagt, ich finde es nachvollziehbar, wenn er sagt: „Ich hatte nichts mehr im Tank.“

Simon Harris, Irlands jüngster Regierungschef
Simon Harris, Irlands jüngster Regierungschef Foto: AFP/Paul Faith