StandpunktEine NATO ohne Amerika?

Standpunkt / Eine NATO ohne Amerika?
Am 4. April feierte die NATO ihren 75. Geburtstag in Brüssel Foto: AFP/Kenzo Tribouillard

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Die NATO, das erfolgreichste Militärbündnis der Geschichte, ist heute stärker denn je. Russlands großangelegte Invasion der Ukraine im Februar 2022 hat den fortbestehenden Zweck und Wert des Bündnisses unterstrichen, und die Organisation hat seitdem zwei leistungsfähige Neumitglieder hinzugewonnen: Finnland und Schweden. Doch während Russland weiterhin stetig Soldaten, Waffen und seine längerfristige wirtschaftliche Resilienz einbüßt, ist es die Ukraine – und nicht die NATO – die Russlands Schläge abfängt.

Wie sieht es mit der Zukunft aus? Die europäischen Regierungen wissen, dass Donald Trump eine echte Chance hat, die US-Präsidentschaftswahl im November zu gewinnen, und dass eine neuerliche Trump-Präsidentschaft das bleibende Bekenntnis des zentralen NATO-Beitragsleisters zum Bündnis in Zweifel ziehen würde – zusammen mit der Glaubwürdigkeit der Sicherheitsgarantien, die die NATO so mächtig machen.

Um fair zu sein: Der Ex-Präsident hat einige legitime Anliegen vorgebracht. Nachdem Russland 2014 auf der Krim einmarschiert war, hatten alle Mitgliedstaaten zugesagt, bis 2024 mindestens 2% ihres nationalen BIP für die Verteidigung auszugeben. Vor zwei Monaten verkündete NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, dass die europäischen NATO-Mitglieder dieses Ziel erstmals seit Gründung des Bündnisses im Jahre 1949 kollektiv erreichen werden. Doch liegt dies nur daran, dass einige Staaten – insbesondere jene in unmittelbarer Nachbarschaft der russischen Grenzen – ihr Soll übererfüllt haben.

Zwei-Prozent-Ziel

Dreizehn der 31 NATO-Mitglieder erfüllen den Schwellenwert von 2% weiterhin nicht, und Trump hat ihre Zuverlässigkeit als Verbündete erneut infrage gestellt. Wenn sie Russland derart fürchten, so fragt er, warum sind sie dann nach wie vor nicht bereit, 2% vom BIP für ihre Sicherheit auszugeben? Fast alle europäischen Regierungen sind sich der Notwendigkeit höherer Ausgaben bewusst, und Trumps jüngste Stichelei, die Russen sollten mit denen, die das Ausgabeziel nicht einhalten (das sind natürlich die Länder, die mit am weitesten von der russischen Grenze entfernt liegen), „machen, was immer sie zur Hölle wollen“, hat viele Europäer zu der Frage veranlasst, was eine zweite Trump-Präsidentschaft für sie bedeuten könnte. Könnte die NATO ohne klares und glaubwürdiges Bekenntnis der USA zu ihr weiterbestehen?

Bei den Feierlichkeiten in diesem Monat zum 75. Jahrestag des Bündnisses hat Stoltenberg einen vom Ergebnis der diesjährigen US-Wahlen unabhängigen Fünfjahresfonds für die Ukraine im Umfang von 100 Milliarden Euro vorgeschlagen. Jenseits der Ukraine-Politik jedoch haben die Ängste der Europäer über ihre mangelnde Verteidigungsfähigkeit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zudem veranlasst, sich für einen europäischen Kommissar für Verteidigung auszusprechen.

Dies wäre durchaus nicht der erste ehrgeizige Plan, den die Europäer in den letzten Jahren in Angriff genommen haben. Da waren die rasche Markteinführung von Impfstoffen während der Covid-19-Pandemie, die Nothilfen für hilfsbedürftige Regierungen und, nach Februar 2022, die Einleitung eines kostspieligen und komplexen Programms zur Beendigung der Abhängigkeit von russischen Energielieferungen. Und sie taten all dies, während sie zugleich eine historische Zahl an Flüchtlingen aufnahmen, die seit rund einem Jahrzehnt nach Europa strömen.

Wenn sie all dies erreichen können, warum sollten sie die Sicherheit Europas dann nicht auch vor Trump schützen können, indem sie eine unabhängige, wohl koordinierte, auf den EU-Haushalt und den Binnenmarkt gestützte europäische Politik zur Stärkung der europäischen Verteidigungsbranche verfolgen? Leider gibt es drei Gründe, diesbezüglich zumindest kurzfristig skeptisch zu sein.

Gründe zur Skepsis

Erstens erfordert die Konzeption und Umsetzung einer stärkeren Rolle der Europäischen Kommission in der Verteidigungs- und Industriepolitik Zeit. Der Prozess wird mit Sicherheit kompliziert und der Plan wird auf Widerstand der nationalen Behörden stoßen, die die Kontrolle über diese Maßnahmen nicht abgeben wollen. Das gilt insbesondere für Mitglieder, die sich sorgen, dass Frankreich – der langjährige Befürworter einer gemeinsamen europäischen Verteidigung und das einzige derzeitige EU-Mitglied mit Atomwaffen – die meiste Macht über die Festlegung des sicherheitspolitischen Kurses des Kontinents haben wird.

Zweitens bleibt die EU stark von amerikanischen Waffensystemen, dem Zugriff auf die nachrichtendienstlichen Erkenntnisse der USA und der Rolle Amerikas als treibende Kraft hinter der länderübergreifenden Operationsfähigkeit der NATO abhängig. Die fortdauernde Bedrohung durch Russland wird mehr Europäer denn je veranlassen, ihre Verteidigungsausgaben zu erhöhen und ihre Streitkräfte zu vergrößern, doch wird es mindestens ein Jahrzehnt dauern, diese Prozesse zum Abschluss zu bringen. Die gegenwärtige Gefahr lässt eine derart lange Übergangsphase nicht zu.

Drittens schließlich würden zumindest einige europäische Regierungen den Schulterschluss mit Trump stetig engeren Beziehungen zu den anderen EU-Mitgliedstaaten klar vorziehen. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán und der slowakische Ministerpräsident Robert Fico sind offensichtliche Beispiele, und in den kommenden Jahren könnten wir durchaus erleben, dass weitere (und systemisch wichtigere) EU-Mitglieder populistische Russland-freundliche Regierungen wählen. Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hat sich bisher als verlässliche Unterstützerin der Ukraine erwiesen, doch das könnte sich ändern, falls Trump erneut ins Weiße Haus einzieht. Falls Marine Le Pen 2027 endlich französische Präsidentin werden sollte, wäre eine engere Anlehnung an Trump selbst im Elysée-Palast, wo seit langem ein Wunsch nach einer unabhängigeren europäischen Außen- und Sicherheitspolitik besteht, vorstellbar.

Über die US-Wahl im November hinaus gilt es, eine längerfristige Frage zu erwägen. Wird bei einer Niederlage Trumps zusammen mit dessen politischer Karriere auch der Trend hin zu einer stärker isolationistischen und transaktionellen US-Außenpolitik enden? Oder haben neue Generationen amerikanischer Wähler – die nicht alt genug sind, um sich an die internationale Rolle zu erinnern, die die USA zum Guten wie zum Schlechten zwischen 1945 und 2008 spielten – die Einstellungen der US-Bevölkerung im Hinblick auf die „globale Führungsrolle“ der USA verändert, auf der sowohl Demokraten als auch Republikaner früher einmal bestanden? Wenn ja, wird nicht einmal ein Wahlsieg Bidens die Debatte in Europa über die europäische Sicherheit beenden.

Aus dem Englischen von Jan Doolan.

Ian Bremmer ist Gründer und Präsident der Eurasia Group und von GZERO Media sowie Mitglied des Exekutivkomitees des hochrangigen UN-Beratungsgremiums für künstliche Intelligenz.

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