„Haben nicht bei null angefangen“

„Haben nicht bei null angefangen“

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Die russische Oktoberrevolution vor 100 Jahren hat das politische Antlitz der Welt im vergangenen Jahrhundert maßgeblich geprägt. Wie blicken russische Historiker heute auf dieses Ereignis zurück? Ein Gespräch mit Dmitri Pawlow, beigeordneter Direktor des Instituts für russische Geschichte der Akademie der Wissenschaften.

Tageblatt: Nach dem Zusammenbruch der UdSSR Anfang der 1990er hat für IhrLand eine neue Zeitrechnung angefangen. War das auch für die russische Geschichtsschreibung die Stunde null? Musste die Geschichte neu geschrieben werden?

Dmitri Pawlow, beigeordneter Direktor des Instituts für russische Geschichte der Akademie der Wissenschaften

Dmitri Pawlow: (lacht) Historiker sind konservative Leute und sie fangen niemals bei Null an. Man baut immer auf die Arbeit der Vorgänger auf und es dauert lange Jahre, bis sich eine Sicht ändert und allgemein angenommen wird. So dass eine vollständige Entfremdung vom Bolschewismus, was Sie wohl mit Ihrer Frage gemeint haben, nicht stattfand. Die Übergangsperiode zieht sich über Jahrzehnte.

Haben sich bei der Erforschung der Oktoberrevolution neue Fakten ergeben?

Wir wurden Teil der internationalen Geschichtsforschung, begannen, öfters ins Ausland zu reisen. Bei uns wurden die Archive allgemein zugänglich gemacht, auch für ausländische Forscher. Es gab zudem viele Enttäuschungen, besteht doch oft die Vorstellung, dass, einmal der Zugang zu den Archiven möglich, plötzlich die ganze Wahrheit ans Licht kommt. Aber so etwas gibt es nicht. Auch die Arbeit in den Archiven erfordert viel Zeit, man muss ja die Qualität der Quellen prüfen.

Wladimir Lenin, wie ihn der Zeichner Juri Artsybuschew (1877-1952) während der russischen Konstituante (1918) erlebte

Was waren für Sie in diesem Zusammenhang die größten Entdeckungen, was die Oktoberrevolution anbelangt?

Ich kann nicht sagen, dass Außergewöhnliches entdeckt worden sei. Das konnte auch nicht sein. Historiker sind ernste Leute und sie haben immer mit Dokumenten gearbeitet. Einige Versionen konnten bestätigt werden. Eine der großen Fragen war die, ob die Bolschewiken Geld von den Deutschen bekommen haben. Man kann heute behaupten: Ja, sie nahmen Geld. Bekannt sind die Beträge, die Kanäle, wie die Mittel in die Kassen der Bolschewiken geflossen ist. Wozu diese Gelder in Russland gebraucht wurden, das ist schon weniger bekannt, weil die Dokumente mit großer Wahrscheinlichkeit zerstört worden sind. Es gibt die radikalere Annahme, dass die Bolschewiken einfach Spione, Agenten waren, die die Aufträge derer ausführten, von denen sie bezahlt wurden. Dann besteht die diametral andere Sicht, die auch heute noch von den Kommunisten geteilt wird. Das sei alles Lüge und Verleumdung. Die Revolution sei Ergebnis eines Volksaufstandes gewesen, von irgendwelchen Geldern könne nicht die Rede sein. Wie so oft liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte. Es gab Geld, ziemlich große Summen, aber man kann die Bolschewiken nicht als Agenten und Spione bezeichnen.

Trotzki, wie ihn der Zeichner Juri Artsybuschew (1877-1952) während der russischen Konstituante (1918) erlebte

Es gab den Aufstand von 1905, die Februarrevolution 1917 und schließlich die Oktoberrevolution. War Letztere angesichts der damaligen Situation unvermeidbar?

Ich denke nicht. Die Oktoberrevolution konnte niemand voraussagen, genauso wenig wie die Februarereignisse. Es gab natürlich gewichtige Ursachen dafür, aber die Ereignisse kamen für jedermann überraschend, auch für die Revolutionäre selbst. Bekannt ist Lenins Aussage im Januar 1917 in der Schweiz: „Wir Alten werden die Revolution wohl nicht mehr erleben.“ Einen Monat später dann ereignete sich die Februarrevolution. Lenin hat sich mit seinen politischen Prognosen oft geirrt. Die Menschen versuchen heute eine Art Gesetzmäßigkeit zu erkennen, aber in der Geschichte der Menschheit gibt es keine Ereignisse, deren Eintreten vorausbestimmt war. Es ist in der Regel eine Kombination von Zufällen.

In den 1990er-Jahren erschienen etliche Werke über Revolutionäre wie Stalin, Lenin und Trotzki. Einige Autoren zeichneten ein äußerst negatives Bild von ihnen, andere versuchten menschliche Züge hervorzuheben. Weiß man heute alles über Lenin?

Dieses Foto vom Oktober 1917 zeigt in Moskau (Russland) bewaffnete Soldaten, die bei einer Demonstration zum Kreml ein Banner mit der Aufschrift „Kommunismus“ tragen.

Nein. Lenin wurde beispielsweise erstmals im Jahr 1895 im Zusammenhang mit der Affäre um den „Petersburger Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse“ festgenommen. Er war einer von mehreren Festgenommenen. Alle wurden in die Verbannung geschickt – Julius Martow, ein bedeutender Sozialdemokrat, in die völlig verlassene Region Turuchansk und Lenin in das fast Kurort-artige Dorf Schuschenskoje (beide in Sibirien). Warum? Bis jetzt wurden die Ermittlungsakten zum Kampfbund nicht veröffentlicht. Eigentlich müsste derlei Ereignis ein leuchtender Moment in der Biografie des „Anführers“ sein wegen seines heroischen Verhaltens während der Ermittlung. Aber nichts. Warum? Man kann darüber lediglich spekulieren.

Ein anderes Beispiel. Während des russisch-japanischen Krieges (1904-1905) tat Lenin alles, um die Waffen zu bekommen, die russische Revolutionäre mit japanischem Geld in Europa gekauft hatten. Es gab Versuche, sie im Sommer 1905 per Schiff nach Russland zu bringen. Daraus wurde nichts. Das Schiff lief auf eine Sandbank auf, die Revolutionäre, schlechte Seefahrer, die ohne Karten navigierten, verließen es. Lenin bemühte sich, den Empfang der Waffen bei Wyborg, nicht weit von Petersburg, zu organisieren. Viele Einzelheiten über Geld- und Waffenbeschaffung und deren Zustellung bleiben bisher unbekannt.

Wurden Dokumente von den Bolschewiken zerstört? Gab es überhaupt Unterlagen dazu?

In Geldfragen muss man ja irgendwelche Belege haben – vonseiten derer, die die Mittel geben, und derer, die sie entgegennehmen. Das Vorhandensein japanischer Gelder wird von beiden Seiten bestätigt. Die Bolschewiken versuchten in der ersten Revolution (1905) nicht, Geld von den Japanern zu bekommen, sondern Waffen, die mit diesem Geld gekauft wurden. In Memoiren wird von Bolschewiken erzählt, die durch Europa reisten, um Kontakte zu Personen aufzunehmen, welche einem japanischen Oberst nahestanden, über den das Geld nach Russland kam. Bekannt sind ihre Routen, wen sie trafen. Das sind Memoiren, die oftmals lange Jahre nach den Ereignissen geschrieben wurden. Memoiren sind nicht immer zuverlässige Quellen. Aber mit anderen Unterlagen kombiniert, ergibt sich ein ganzheitliches Bild. So gibt es in diesem Fall Berichte des besagten Oberst an seinen Generalstab, in denen auch von Geld die Rede ist.

Dieses Foto vom 7.11.1918 zeigt in Moskau (Russland) den Begründer der Sowjetunion Wladimir Lenin bei einer Ansprache auf dem Roten Platz.

Bisher war Lenin eigentlich als der große Theoretiker bekannt, während Leute wie Stalin beispielsweise die Männer fürs Grobe waren, in diesem Fall für Geldbeschaffung.
Ja, Lenin beteiligte sich auch an der konkreten Parteiarbeit, die er ebenfalls leitete.

Anlässlich des Jahrestages der Oktoberrevolution zeigen russische Fernsehstationen viele Spielfilme dazu. Wird da eine „richtige“ Darstellung der Ereignisse vermittelt oder erneut ein einseitiges Bild der russischen Geschichte gezeichnet?

Einerseits begrüße ich es, wenn Filme zu historischen Themen gedreht werden. Die älteren Generationen haben unterschiedliche Meinungen über die Oktoberrevolution und den Bürgerkrieg. Es gab die Roten und es gab die Weißen, also solche, die die bolschewistische Machtergreifung und den Bürgerkrieg rechtfertigten, und die anderen, die kritisch eingestellt waren und den Bürgerkrieg als große Tragödie betrachteten.
Die junge Generation weiß sehr wenig über diese Ereignisse. Sie hat davon von ihren Eltern und Großeltern gehört. Derlei Filme sind für sie wichtig, um das Interesse an der russischen Geschichte zu wecken. Was nun den Inhalt anbelangt, so befürchte ich, dass man wieder ins Extreme fällt.

Während der Sowjetzeit herrschte die durch Filme von Eisenstein mitgeprägte Vorstellung. Heute wird das totale Gegenteil vermittelt. Es gab das zaristische Imperium, einen blühenden und wohlhabenden Staat. Plötzlich tauchten böse Revolutionäre auf, alle vom Ausland finanziert. Sie wiegelten die Massen auf, streuten provokante Ideen. Alles endete mit dem Umsturz, angeführt von absolut prinzipienlosen Menschen wie Alexander Parvus (russischer Revolutionär/deutscher Sozialdemokrat) und Trotzki, die nur nach der Macht lechzen. Lenin wird praktisch zur Randfigur, zum kleinen Provinzpolitiker degradiert, der nicht in der Lage ist, in nationalen und internationalen Dimensionen zu denken, was er aber tatsächlich tat. Sein Lebensziel war ja nicht nur der Sozialismus in Russland, sondern mindestens auch in Europa. Alle Ehre für Trotzki und Parvus, es gibt aber keine Ursache, sie in die erste Reihe zu rücken.

Dieses Foto zeigt den Winterpalast, auch Winterpalais genannt, im damaligen Petrograd, dem heutigen St. Petersburg (Russland).

Stellen Sie eine Annäherung in der Einschätzung der Oktoberrevolution zwischen russischen und westlichen Historikern fest?

Fakten verbinden die Historiker. Wenn diese unbestreitbar sind, kommt es zur Annäherung der Konzeptionen. Das Überdenken großer historischer Ereignisse erfordert Zeit. Wir sind auf der Suche nach dem, was tatsächlich geschehen ist. Wir diskutieren offen und kritisch. Es gibt ein anderes Vertrauensverhältnis. Als ich Ende der 1980er-Jahre erstmals nach Westeuropa reiste, in die Niederlande, schaute man auf mich wie auf einen KGB-Agenten, umgekehrt auch wurden US-Kollegen, die nach Russland kamen, als CIA-Mitarbeiter angesehen (lacht).

Der Jahrestag der Oktoberrevolution wurde in Russland wenig gefeiert. Es gab keine offiziellen Feierlichkeiten …

Gott sei Dank! Früher war das ein Nationalfeiertag, der von allen begangen werden musste. Heute ist das keine staatliche Angelegenheit mehr, sondern eine gesellschaftliche. So hat sich die KPRF (Kommunistische Partei der Russischen Föderation) mit einer feierlichen Tagung und einer kleinen Kundgebung begnügt.

Aber die Oktoberrevolution ist doch Teil der Geschichte. Was heute ist, ist auch eine Fortsetzung dessen, was vor 100 Jahren geschah, und der heutige Staat ist Nachfolger des früheren.

Wenn wir dieses Ereignis feiern würden, und da versetze ich mich in die Rolle des Kremls, würden wir die Spaltung des Landes vertiefen. Deshalb ist es besser, das Ganze professionellen Historikern zu überlassen und von ihnen Empfehlungen zu bekommen. Und nicht umgekehrt, wie das früher während 70 Jahren der Fall war, als die KPdSU ihre Thesen aufdrängte, im Rahmen derer man die historischen Ereignisse untersuchen musste.