Ein Ding namens Menschenrechte

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Ob sich der sogenannte Westen und Russland erneut einen Kalten Krieg liefern, ist unter Fachleuten umstritten. Wie unterschiedlich die Ansichten zwischen beiden Seiten in der Zwischenzeit jedoch erneut sind, zeigt sich an der Einschätzung der Bedeutung der Menschenrechte. Wie in Sowjetzeiten werden diese erneut als Instrument des Westens betrachtet, um das Land zu destabilisieren. So interpretiert der russische Menschenrechtler Sergej Nikitin die Lage.

Sergej Nikitin (61) hatte bisher ein bewegtes Leben. Sein Studium an der Leningrader Fakultät für Radioelektronik, Spezialität Halbleitertechnik, brach er nach drei Jahren ab. „Das war nicht so mein Ding“, sagte er. Er stürzte sich ins „Meer des Lebens“, war Metzger, dann Briefträger, wechselte für längere Zeit ins Gaststättengewerbe, um dann auch noch verschiedene Berufe im Baugewerbe auszuüben. 1999 krempelte er sein Leben erneut um, ging nach Moskau und begann für die russische Antenne einer Quaker-Organisation zu arbeiten. „Wir arbeiteten mit Menschen, die den Militärdienst aus Gewissensgründen verweigerten und Zivildienst leisteten; wir arbeiteten mit Flüchtlingen.“

Drei Jahre später folgte seine Anstellung bei der Moskauer Sektion von Amnesty International. Der internationalen Menschenrechtsorganisation blieb er bis zu seinem Renteneintritt 2016 als Direktor treu. „AI kannte ich schon lange“, sagte uns Nikitin, den wir am Samstag vor der Veranstaltung von AI Luxembourg anlässlich des Internationalen Tages der Menschenrechte in Luxemburg treffen. „Ich komme aus einer antisowjetischen Familie. Wir hörten BBC, Stimme Amerikas. Amnesty kannte ich sehr gut.“ Seit wenigen Monaten lebt Sergej Nikitin mit seiner Familie in Großbritannien.

Von Agenten und Spionen

Die Lage der Menschenrechte in Russland verfolgt er weiterhin intensiv. Besonderen Grund für Optimismus sieht er jedoch nicht. „Die Lage verschlechtert sich von Jahr zu Jahr. Dazu tragen Gesetzesänderungen und die Rechtspraxis bei.“ Nikitin spricht von einer hartnäckigen Tendenz, die 2012 mit der Annahme des Gesetzes über „ausländische Agenten“ einsetzte. Die Massenmedien dienen als Transmissionsriemen und sie betreiben eine ständige Hirnwäsche, bedauert Nikitin. „Da geht die Rede von irgendwelchen Agenten und Spionen, die in unserem Land eine Art Maidan provozieren wollten.“ Jeder Protest werde als destruktiv und feindlich dargestellt.

„Parallelen werden dann zur Ukraine gezogen, wo totales Chaos herrscht. Und warum? Wegen des Maidan.“ Auf dem Maidan, einem Platz im Zentrum von Kiew, ereigneten sich 2014 Massendemonstrationen und gewalttätige Ausschreitungen, die zum Rücktritt von Präsident Viktor Janukowitsch führten. Einen Maidan in Russland dürfe es nicht geben. Auch deshalb ignorieren die Menschen ganz einfach das Thema Menschenrechte, sagte Nikitin. Und wenn darüber geredet werde, dann meist negativ. Alles sei aus dem Ausland gesteuert.

Das Gesetz über ausländische Agenten hat sich sehr stark auf die Art, wie Nichtregierungsorganisationen arbeiten dürfen, ausgewirkt. „Früher konnten wir mit dem Außenministerium kommunizieren. Mit dem Innenministerium versuchten wir, das Thema Polizei und Menschenrechte anzuschneiden, mit dem Unterrichtsministerium das Thema Menschenrechte in den Schulprogrammen.“ Heute sei das nicht mehr der Fall. „Alle haben Angst.“ Präsident Wladimir Putin habe klare Signale gesendet.

Wie sich denn der zunehmende Druck auf Menschenrechtler und einfache Bürger zeige? „Es herrscht ein allgemeines Misstrauen gegenüber Menschenrechtsorganisationen.“ Nikitin erinnert sich daran, wie sich seine Sektion vor einigen Jahren mit dem Generalsekretär von AI, Salil Shetty, in einem angemieteten Saal in einem Café unweit des Moskauer AI-Büros treffen wollte. Sehr schnell habe die Direktorin des Cafés ihn aufgefordert, „sofort mit diesem politischen Meeting aufzuhören, andernfalls würde sie die Polizei rufen“.

„Geht nicht zu Demonstrationen!“

Heimtückisch ist das Vorgehen der Polizei gegen Demonstrationsteilnehmer. „Sie werden vor Gericht gestellt und zu zwei, drei Jahren Gefängnis verurteilt. So geht ein klares Signal an die Menschen: Geht nicht zu diesen Meetings, auch wenn sie autorisiert sind. Sie riskieren, für mehrere Jahre im Gefängnis zu landen.“ Offensichtlich sei ihm diese Taktik bei der Kundgebung auf dem Bolotnaja-Platz im Mai 2012 geworden, als sich die Polizei einzelne, ganz normale Leute, keine Anführer, aus der Masse herausfischte. Sie wurden später vor Gericht gestellt. Beim sogenannten „Marsch der Millionen“ waren insgesamt zwei Dutzend Personen wegen Massenunruhen und Gewaltanwendung gegen die Staatsgewalt angeklagt worden.

Bedrückend für Nikitin ist, dass auch bei jüngeren Generationen die Frage der Menschenrechte nur ein Randthema ist, wenn überhaupt. Ihn verwundere die große Zahl junger, patriotisch gesinnter Menschen: „Als wir noch in den Unis auftreten durften, hat mich immer wieder erstaunt, wie wenig Menschen bereit sind, über Menschenrechte zu sprechen. Es gab immer Widerstand. Man sei nicht bereit, das zu hören oder das anzunehmen, weil das aus dem Westen komme und es ein Versuch sei, unser großes Land zu destabilisieren.“.

Nikitins Befürchtungen werden von den Ergebnissen einer vor kurzem veröffentlichten Erhebung des Lewada-Zentrums über die Sorgen der Menschen bestätigt. Am meisten beunruhigen ökonomische, soziale und kulturelle Fragen. Meinungs- und Pressefreiheit stehen ganz unten im Ranking. „Das zeigt, dass die Menschen nicht verstehen, dass eine eingeschränkte Meinungsfreiheit zu Einschränkungen sozialer Rechte führen kann“, schlussfolgerte Nikitin.

„Die Menschenrechtsbewegung stirbt aus“

Die offizielle Webseite des russischen Bevollmächtigten für Menschenrechte zählt dreizehn Organisationen auf, die für Menschenrechte kämpfen. Das ist erstaunlich viel. Doch Nikitin mahnte Vorsicht an. Darunter gebe es auch Kreml-nahe Vereinigungen, sagte er. „Unter dem Strich haben wir wenige russische Menschenrechtsorganisationen und die meisten kümmern sich um Fragen wie die Bereitstellung eines Rechtsanwalts für Festgenommene.“

Allein Amnesty sei in der Lage, breite Kampagnen zu organisieren, um die Behörden zu beeinflussen. Hinzu kommen die finanzielle Probleme der russischen Menschenrechtsorganisationen. Das Gesetz über „ausländische Agenten“ hat viele Geldgeber abgeschreckt. Die russische Menschenrechtsbewegung sei am Sterben, zitierte Nikitin einen russischen Menschenrechtler. Amnesty Russland bezieht ihre Mittel aus der Londoner Zentrale, ist daher als ausländische Organisation registriert.

Russland ist groß und Moskau ist fern. Wenn Medien in Europa über die Menschenrechtslage in Russland sprechen, dann schauen sie in der Regel auf Moskau oder St. Petersburg. Wie es denn in der russischen „Provinz“ aussehe, fragten wir Sergej Nikitin. Tatsächlich wisse man weniger aus den anderen Landesteilen, sagte er. So gebe es in Nowgorod ein „Anti-Folter-Komitee“, das seit Jahren sehr hartnäckig gegen die Folterpraxis der Polizei in dieser Stadt vorgehe.

Es gebe eine Sektion des Komitees auch in Orenburg. „Aber es ist eine sehr schwere Arbeit, da die Polizei jedwede Schuld von sich weist. Es gibt natürlich manchmal kleine Erfolge, so wenn ein Polizeibeamter der Folter überführt wird und im Gefängnis landet.“ Aber wenn es keine Organisation vor Ort gebe, gebe es auch keine Menschenrechtsschützer, sagte Nikitin. „Und den Leuten ist oftmals nicht bewusst, dass sie Rechte haben. Deshalb ist es wichtig, dass man in der Schule darüber redet. Was leider nicht geschieht.“