Die Mühlen der Justiz

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„Besser spät als nie“ wird man gestern in Liverpool gesagt haben, als sich die Kunde von der Anklage von sechs Personen im Zusammenhang mit der Hillsborough-Katastrophe von 1989 verbreitete. Das gleichnamige Stadion in Sheffield steht nicht nur für eines der schlimmsten Stadionunglücke in der Geschichte des Fußballs, sondern gleichzeitig für einen politischen Skandal gewaltigen Ausmaßes. Würde Großbritanniens damalige Premierministerin Margaret Thatcher noch leben, so gehörte sie jedenfalls mit auf die Anklagebank.

Jahrzehntelang beharrten die Autoritäten auf ihrer Darstellung. Demnach seien alkoholisierte Fußballanhänger für die Katastrophe verantwortlich gewesen. Erst 2012 kam Bewegung ins Dossier, als Experten enthüllten, dass mindestens 41 Menschen noch leben könnten, hätten die Sicherheitsbeamten ihre Arbeit richtig gemacht.

2014 nahmen sich die Gerichte der Sache an und klärten 2016 die Schuldfrage endgültig: Die Sicherheitskräfte tragen die Hauptschuld an der Hillsborough-Katastrophe, bei der 96 Fans des
FC Liverpool zu Tode gequetscht wurden, nicht die Zuschauer. Die waren von der Polizei in einen überfüllten Block geleitet worden. Als sich das Drama abzeichnete, öffnete die Polizei die Stadionzäune nicht. Fußballfans galten in England spätestens seit der Heysel-Katastrophe 1985 als Rowdys, Hooligans und Staatsfeinde. Also sollte ein Platzsturm um jeden Preis verhindert werden. Die Beamten drängten die flüchtenden Fans in den Block zurück und behinderten zudem den Einsatz der Sanitäter.

Ein unglaubliches Versagen, doch genauso skandalös war die Aufarbeitung der schrecklichen Geschehnisse. Die Polizei schönte über 100 Berichte, um von der eigenen Verantwortung abzulenken. Die Lügen wurden vom Massenblatt The Sun verbreitet und von der Politik gedeckt. Denn die Regierung Thatcher hatte kein Interesse daran, die Polizei in unruhigen Zeiten zwischen Bergarbeiterstreiks und „Poll Tax“-Massendemonstrationen an den Pranger zu stellen. Sie brauchte sie als Verbündete.

Außerdem bot das Drama die Gelegenheit, den englischen Fußball zu „säubern“, wie Margaret Thatcher gesagt hätte. Aus dem Unglück resultierte der Taylor Report, der den Fußball auf der Insel nachhaltig veränderte. Die Stehplätze verschwanden und somit veränderte sich die Hauptklientel der Fußballvereine. Viele konnten sich die wesentlich teureren Sitzplatzkarten nicht mehr leisten. Heute werden Englands Stadien, einst für ihre einmalige Stimmung berühmt, von immer mehr konsumierenden „Eventfans“ gefüllt. Das ist zwar ganz im Sinne der stets nach ergiebigeren Einnahmequellen suchenden Vereine, aber sicher nicht im Interesse der echten Fußballanhänger, denen Werte wie Tradition, Vereinstreue und Zusammenhalt wichtig sind. Dass diese Werte im Turbokapitalismus des modernen Profifußballs eh kaum noch eine Rolle spielen, ist eine andere Geschichte.

In Liverpool sind die Wunden jedenfalls noch lange nicht verheilt, wie der Anfang des Jahres beschlossene Boykott gegen The Sun beweist. Mit der gestrigen Anklageerhebung jedoch ist ein weiterer Schritt in Richtung Gerechtigkeit getan. Nach immerhin 28 Jahren!