Reportage vor der Wahl: Unterwegs im ländlichen Polen, wo Sozialpolitik mehr wert ist als Rechtsstaat

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In Zentralpolen zwischen Lodz und Krakau prägen
nicht Streitereien um Weltanschauungen und Rechtsstaat den Wahlkampf, sondern vor allem soziale Fragen. Kaczynskis Regierungspartei PiS hat
hier nach der Einführung eines Kindergeldes und Rentenerhöhungen ein leichtes Spiel. Doch längst läuft auch hier nicht alles rund.

Paul Flückiger

Ein Pannendreieck für umgerechnet sieben Euro und eine Abpumpeinrichtung für Muttermilch um das Vierfache stehen im Fenster des Pfandleihhauses „Loombard“ zum Verkauf aus. Darüber locken allerlei veraltete Smartphone-Modelle und gar eine Schreckschusspistole. Alleine an der zentralen Pilsudski-Straße von Konskie gibt es drei Pfandleihhäuser. „In der Not greift der Ertrinkende selbst zur Rasierklinge“, erklärt Pfandleiherin M. trocken. „Seit ich hier arbeite, sinkt der Lebensstandard weiter nach unten, alle schönen Autos und neugebauten Einfamilienhäuser rund um die Stadt sind auf Kredit“, sagt M. Die junge Frau arbeitet erst seit neun Monaten im „Loombard“ und ist froh, überhaupt eine sichere Stelle gefunden zu haben.

Es geht gut und schlecht zugleich in Konskie, das merkt jeder, der sich ein paar Stunden in Ruhe umschaut in dem schmucklosen Städtchen im Norden der Wojwodschaft Heiligkreuz (poln. Swietokrzyska), die bei den in einer Woche anstehenden Parlamentswahlen den Wahlkreis Nummer 33 bildet. Gut geht es etwa im Vergleich zu 2004, dem EU-Beitrittsdatum. Viel wurde seitdem gemacht, alle Häuser an die Kanalisation angeschlossen, überall Bürgersteige gelegt, Schulen thermoisoliert und mit Computerplätzen ausgestattet und vieles mehr. Schlecht geht es im Vergleich zum fernen Warschau mit seinen neuen gläsernen Bürotürmen und all den schicken Sushi-Restaurants, aber auch zu Großbritannien, wo viele Junge aus Konskie und Umgebung arbeiten.

Einen Ausweg versprechen in Konskie – 19.000 Einwohner, tiefes ländliches Hinterland – neben der traditionellen Bauernpartei PSL, die Linke und vor allem immer wieder die Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS). Die große liberale Oppositionspartei PO mit ihrer Wahlkampfplattform „Bürgerkoalition“ und der neuen Spitzenkandidatin Malgorzata Kidawa-Blonska ist hier im öffentlich wahrnehmbaren Wahlkampf – ganz im Unterschied zu Warschau – überhaupt nicht präsent. Es scheint, als hätten die Liberalen in Heiligkreuz die Waffen bereits vor der Schlacht gestreckt. Auf knapp 50 Prozent kam bei den letzten Wahlen von 2015 im Bezirk Konskie die Kaczynski-Partei PiS, die liberale PO gerade einmal auf 15 Prozent.

Wer kümmert sich jetzt um die Bürgersorgen?

Die lokale Niederlassung der Regierungspartei sitzt eigentlich auf der Hinterseite des Supermarktes „Biedronka“ („Marienkäferchen“), doch das Parteibüro ist leer, das Schild abmontiert. Ein Machtkampf habe die lokalen Strukturen lahmgelegt, ist im Nachbarbüro, einer Sprachschule, zu erfahren. „Karrieristen drängen an die Macht, der alte Vorstand hat das Handtuch geschmissen“, sagt eine Frau. „Doch wer kümmert sich denn jetzt um die Bürgersorgen?“, sorgt sie sich. „Sie sollen nur noch mal die Wahlen gewinnen, aber dann muss hier aufgeräumt werden“, sagt sie und verweist auf das Bezirksamt für weitere Auskünfte.

Wieso das kleine Konskie für ganz Polen steht

Auch das kleine Konskie steht für ganz Polen. Denn auch dort ist die Zeit der großen PiS-Ideologen à la Kaczynski und Kulturminister Pjotr Glinski vorbei. Karrierepolitiker wie der zum Regierungschef mutierte Banker Mateusz Morawiecki haben das Heft übernommen.
Immer neue Skandale suchen diese Generation heim, doch an der PiS perlen sie nach jeweils zwei, drei Wochen Aufruhr im großen Oppositionssender TVN ab, als sei nichts gewesen. Als „Teflon-Partei“ wird die PiS deshalb inzwischen auch von Politologen bezeichnet. Wichtig ist dabei, dass Parteichef Kaczynski immer schnell durchgreift, Schuldige werden gefunden, Köpfe rollen, nie aber in der engen Führungsriege seiner Rechtspartei.
Unter der liberalen Vorgängerregierung des abtretenden EU-Ratsvorsitzenden Donald Tusk wurden Skandale jeweils wochenlang verschleppt, immer in der Hoffnung, die Bürger würden sie vergessen. Nach acht Jahren Regierungszeit kam die Abstrafung umso heftiger. 2015 kam Tusks Erzfeind Jaroslaw Kaczynski mit dem Gewinn von über der Hälfte der Parlamentssitze an die Macht zurück.
Für viele war das völlig überraschend, sie hatten vergessen, dass Warschau nicht Polen ist und die paar regionalen Zentren wie Danzig, Wroclaw (Breslau), Poznan (Posen) und Krakau nur einen kleinen Teil der Wähler stellen.

„Eigentlich geht es aufwärts“

„Was soll ich Ihnen sagen? Einfach immer nur weiter so! Seit 2015 geht es hier endlich aufwärts und wir lösen auch noch die letzten Probleme“, sagt Grzegorz Piec, der Bezirkschef von Konskie. Erst vor ein paar Monaten hatte der PiS-Aktivist Nachwahlen gewonnen, seit drei Monaten steht er nun sechs Gemeinden mit insgesamt 80.000 Einwohnern vor. Piec ehrt den Nationalhelden und späteren Diktator Marschall Pilsudski, hat sein Büro mit einem Säbel und Heiligenbildern geschmückt.

Der stramme Mittvierziger strotzt vor geradezu jugendlicher Kraft und Zuversicht. „Zahlen? Gerne!“, sagt er und listet eine Halbierung der Arbeitslosenzahlen auf knapp über neun Prozent für seinen Bezirk in den letzten vier Jahren auf, neue Bezirksstraßen dazu, Kultur-, Jugend- und Traditionsförderung, ein Tourismuskonzept und die erste staatliche Millionendotation für das Regionalspital von Konskie. Probleme macht Piec vor allem noch bei der Abwanderung und im Gesundheitssystem aus. „Die Ärztelöhne sind verglichen mit dem Ausland hier einfach noch zu niedrig“, sagt er. Aber man könne den Leuten schließlich nicht verbieten, anderswo ein besseres Auskommen zu suchen.

Piec will nun selbst für den Bezirk ins Landesparlament. Überall in Konskie hängt sein Konterfei neben dem angriffigen blau-roten Adler der PiS. Ein Wahlprogramm brauche er eigentlich keines, erklärt der Bezirksvorsteher. „Weiter so!“ – „Das ist alles, was ich anbiete und das reicht“, sagt Piec und zählt die beliebtesten PiS-Neuerungen wie das erstmals 2016 ausbezahlte Kindergeld 500+ auf sowie die Rentenalterssenkung von 67 Jahren (Tusk) zurück auf 65 Jahre (60 Jahre für Frauen) auf. „Themen wie LGBT oder Rechtsstaatlichkeit spielen dagegen hier auf dem Land keine Rolle“, sagt Piec. Und dass die Demokratie nicht gefährdet sei, könne man ja leicht den Wahlplakaten in der Gegend entnehmen. In der Tat sieht man in Heiligkreuz ab und an auch ein Plakat der einst auf dem Lande starken Bauernpartei PSL sowie der Linken. Nur in der Gebietshauptstadt Kielce ist dazu der einstige Innenminister Bartlomej Sienkiewicz von der oppositionellen Bürgerplattform zu sehen. „Hier bei uns mag man Tradition und katholische Kirche“, gibt Piec zum Abschied auf den Weg in die Landeshauptstadt Kielce mit.

Entscheidender Faktor ist das Kindergeld

Auf dem Weg dorthin im Dorf Staporkow hat sich Lukasz Swiercinski, der Spitzenkandidat der oppositionellen PSL in Heiligkreuz, Zeit für einen Schwatz neben der Kirche genommen. Die PiS habe seine Bauernpartei PLS auf dem Lande praktisch aufgerollt, gibt er unumwunden zu. „Aber wir machen wieder Boden gut, vielleicht gewinnen wir in Heiligkreuz gar 4 von 16 Parlamentsabgeordneten“, gibt sich auch Swiercinski optimistisch.

Als Grund für seinen Optimismus zählt er unzufriedene Geschäftsleute auf und eine PiS-Sozialpolitik, die die Eigeninitiative der Polen töte. Das Kindergeld 500+ sei zwar zum entscheidenden Faktor im Wahlkampf geworden, gerade in Gemeinden wie seiner mit rund 20 Prozent Arbeitslosigkeit. In Staporkow wurden Ende der 1980er-Jahre noch die meisten Radiatoren Polens produziert, mittlerweile ist das Kombinat mit seinen einst 3.000 Arbeitsplätzen abgewickelt. „Der einzige Arbeitgeber neben der Gemeinde ist der Handel“, klagt der 41-jährige Swiercinski, der einst in Krakau Politologie studiert hat. Die Bevölkerung halte in dieser Situation vor allem mit Sozialhilfegeldern und dem von Kaczynskis PiS eingeführten Kindergeld 500+ durch. „Doch immer mehr Bürger sehen, dass dies auf Dauer keine Lösung sein kann“, hofft der ländliche Oppositionspolitiker.

Sozialhilfe als Rettungsring für eine ganze Gesellschaft

Rund 40 Kilometer weiter in Starachowice, einer vor der Wende von 1989 für ihre „Star“-Lastwagen berühmten Stadt, werden alle Sozialhilfe-berechtigten Familien im sogenannten MOPS am Stadtrand verwaltet. 2.901 Familien profitierten 2018 in der Stadt mit ihren knapp 50.000 Einwohnern von dem für polnische Verhältnisse sehr großzügig ausgelegten Programm. Ein Drittel der gesamten Sozialausgaben wurden in dem demografisch überalterten Starachowice dafür aufgewendet. „Bald werden es deutlich mehr sein, denn auf die Wahlen hin wird nun seit Spätsommer auch bereits das erste Kind bezuschusst.“
Monatlich gibt es umgerechnet rund 120 Euro pro Kind. „Das hilft den Familien, klar“, sagt Direktorin Dorota Cieslik. Dennoch beantragten viele Familien dazu noch Sozialhilfegeld, denn das Gesetz erlaube dies, klagt sie. Die Anreize, dazu noch eine Arbeitsstelle zu suchen, seien oft sehr gering. „Vor allem die Frauen werden passiv, kehren nach Schwangerschaften nicht mehr in ihren Beruf zurück“, sagt sie. „Das 500+-Programm bringt mehr Geld in Umlauf, hielt daneben aber wenig“, sagt Cieslik. Vor allem konnte die Geburtenrate nur kurzfristig angehoben werden, im Moment sinkt sie wieder.

Im Sozialamt von Starachowice sagt das niemand offen, aber klar wird in den Gesprächen, dass hier und in Hunderten weiterer kleinerer Städte Tausende von Abhängigen der staatlichen Sozialhilfe geschaffen werden, die neben den mit zweimaligen Sonderrenten bei der Stange gehaltenen Rentnern ein williges Wählerreservoir für die Regierung bilden. „Kaczynski hat als Erster freiwillig etwas gegeben, die anderen Parteien haben immer nur noch höhere Steuergelder genommen“, erklärt der Maurer Wladislaw K. vor dem Lebensmittelgeschäft des Dorfes Brzozy seine Wahlentscheidung für Sonntag. Wie das alles finanziert werden soll, interessiert ihn nicht.