Männliche Berührungsängste – und wie man sie wegtanzt

Männliche Berührungsängste – und wie man sie wegtanzt

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Mit dem „Platonic Touch“-Projekt geht der luxemburgische Tänzer und Sänger Edsun auf Tuchfühlung mit einer brandaktuellen Thematik, über die nur ungern gesprochen wird: Berührungen zwischen Männern. Daran soll sich etwas ändern.

Am Anfang war das Wort. Das geschriebene Wort. Es stammte aus der Feder von Mark Greene. Eines Autors, der sich für das sogenannte „Good Men Project“ mit gesellschaftlichen und kulturellen Themen auseinandersetzt und besonders auf Familie und Vaterschaft eingeht. Sein Fokus liegt dabei auf der Beobachtung der Entwicklung des modernen Männlichkeitsbildes. In „The Lack of Gentle Platonic Touch in Men’s Lives is a Killer“ spielen Berührungen zwischen Männern sowie die Abwesenheit ebendieser eine essenzielle Rolle.

Bei der Lektüre des Artikels wurde Edsun hellhörig: „Denn es geht um die lange Vergangenheit der Männer, die besetzt ist von Angst. Der Angst, im Falle von Berührungen verurteilt zu werden. Der Angst, durch Berührungen seinen Status als Mann zu verlieren. Einer Angst, die teilweise sogar dazu führt, dass Männer Angst davor haben, ihre eigenen Kinder zu berühren.“

Info

Die Präsentationstour des „Platonic Touch“-Projekts soll 2019 beginnen und in insgesamt acht Ländern stattfinden.

In Greenes Text geht es ebenfalls um gesundheitliche Konsequenzen, die ein Ausbleiben von Berührungen haben kann. Auch hier stieß der luxemburgische Künstler auf ungemütliche Tatsachen: „Die Abwesenheit davon verwandelt sich potenziell irgendwann in etwas anderes, Negatives.“ Wie auch Greene spricht Edsun hier von einer Art „Touch-Isolation-Insel“, von der man nur schwer wieder zurückkehren könnte. Dies sei nicht nur für erwachsene Männer schädlich, sondern auch für Kinder sowie ältere Menschen, die immer häufiger zurückgezogen und ohne Zuwendung lebten.

„Wir bauen uns selbst Mauern“

Nachdem Edsun den Text gelesen hatte, begann er, das dort Statuierte zu überprüfen, indem er Beobachtungen anstellte – sowohl bei Freunden als auch bei Bekannten und seiner Familie. „Und da begriff ich, dass seine Behauptungen zutreffen. Für mich war das erst einmal eine sehr traurige Feststellung, da wir uns damit ja selbst Mauern erbauen und Grenzen setzen bei etwas, das eigentlich sehr natürlich und menschlich sein sollte.“ Schnell stand für ihn fest, dass er ein Projekt ins Leben rufen wollte, das sich auf künstlerische Art damit befasst: „Ich fühle da ganz klar eine Verantwortung. Denn das, was mich unter anderem inspiriert hat, sind meine Neffen. Sie sind sechs Jahre alt und wenn ich sie ansehe und merke, wie sie mit mir umgehen und mich anfassen, dann steht fest: Es wäre unglaublich traurig, wenn das verloren gehen würde. Ich möchte ihnen zeigen, dass es okay ist, sich anzufassen, zwischen Menschen, die man mag. Unabhängig davon, welches Geschlecht sie haben.“

Obwohl das Thema durchaus auch mit Homosexualität in Zusammenhang gebracht werden kann, geht es dem jungen Mann keineswegs nur darum: „Aufgrund einer bestimmten vorherrschenden Mentalität gibt es immer wieder Aussagen wie: ‚Fass mich nicht an, ich bin nicht schwul.‘ Allein schon auf Heterosexuelle, die im Grunde genommen vielleicht eigentlich nur Vertrauen oder eine Freundschaft herstellen wollen, kann eine derartige Zurückweisung krass wirken. Für homosexuelle Menschen natürlich umso mehr.“

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auch sei es interessant, zu sehen, ab wann sich Männer scheinbar doch freier fühlen: „Wenn sie Alkohol trinken und beginnen, sich anzufassen oder gar zu küssen, dann ist es auf einmal akzeptiert, denn dann haben sie eine Entschuldigung für ihr Verhalten. Das fiel gerade kürzlich stark bei der Fußballweltmeisterschaft auf.“

Statt bestimmte Berührungen automatisch mit Vorurteilen zu besetzen, müssen sie Edsuns Auffassung nach wieder in einem natürlicheren Kontext verortet werden. Um herauszufinden, auf welchen Wegen man dies erreichen könnte, sprach er vor allem mit vielen unterschiedlichen Männern. Gerade bei Erwachsenen habe er bestimmte Muster wiedererkannt, berichtet der Künstler: „Eigentlich sprach jeder davon, dass irgendwann unterwegs, im Prozess des Heranwachsens, etwas verschwand, also dass man beispielsweise den berührungstechnischen Kontakt zu seinem Vater im Laufe der Zeit verlor. Fast alle haben sich gefragt, warum und vor allem wann das passierte. Sie konnten es zeitlich nicht festmachen.“

Einbahnstraße

Aber wo kommt so etwas her? Edsun verweist hierbei unter anderem auf Greenes Text: „Er geht davon aus, dass wir uns in eine immer gewalttätigere Richtung bewegen. Allein schon vom Sprachgebrauch junger Männer her, es hat nichts Sanftes. Beim Sex verlagert sich der Fokus diesbezüglich auch immer stärker. Die Resultate einer derartigen Entwicklung finden sich dann auch in der #MeToo-Debatte wieder. Es ist alles miteinander verbunden.“
Einen spezifischen Auslöser hierfür zu benennen, fällt ihm schwer: „Es wird von allen Seiten geschossen. Wir werden stark beeinflusst und sind uns dessen teilweise nicht bewusst. Traditionelle Denkmuster spielen beispielsweise mit rein … Was für die festgefahrenen einseitigen Männerbilder gilt, gilt ebenso für die Frauen. Das verursacht einen unglaublich großen Druck auf das Individuum, in eine bestimmte Schublade passen zu müssen.“

Auf die Frage hin, ob es nicht etwas beunruhigend sei, nach so vielen Jahren der Sensibilisierung noch immer vor einer derart verqueren Situation zu stehen, gibt Edsun zu: „Ich weiß nicht, ob ich eine genaue Antwort darauf habe. Ich habe das Gefühl, dass wir oft vorstoßen, aber dann auch wieder große Rückschritte verbuchen. Manchmal glaube ich, dass wir vorankommen, aber dann wache ich auf und habe den Eindruck, dass mir jemand geradewegs ins Gesicht schlägt.“ Dies hält ihn jedoch nicht davon ab, sich zu engagieren.
Und er stößt mit seinem Projekt dabei wohl auf Zuspruch: „Es gab lediglich Menschen, die es nicht sofort verstanden haben. Sie wollten es aber verstehen und stellten Fragen. Es gab definitiv Interesse.“

Dies lässt sich auch an den Zahlen ablesen, die bei der Kickstarter-Kampagne zum Projekt erreicht wurden. 127 Unterstützer haben 5.542 Euro zusammengetragen, damit Edsuns Idee in die künstlerische Tat umgesetzt werden kann. Dass es derartige Crowdfunding-Systeme gibt, um Geld zu sammeln, sagt dem Künstler sehr zu: „Das Gefühl von Unabhängigkeit ist definitiv da. Man muss hart arbeiten, viel mit Menschen sprechen und das passende Gespräch mit ihnen führen. Es gilt, den richtigen Weg zu finden, um auf sie zuzugehen. Es ist eine menschliche Art, Hilfe zu bekommen, obwohl andere Wege der Finanzierung auch nicht falsch sind.“

Mit Fingerspitzengefühl

Die Umsetzung des Themas erfolgt nun über eine Performance mit vier Tänzern und vier Musikern. Diese beiden Richtungen zu kombinieren, war für Edsun ein ganz natürlicher Vorgang: „Beides hat bei mir ja stets zusammengehört. Das Ganze noch einmal durch die Linse zeigen zu können, verstärkte die Botschaft eigentlich noch um eine Ebene.“ Mit der Linse meint Edsun jene von Lynn Theisens Kamera. Die luxemburgische Fotografin lichtete im Rahmen der Crowdfunding-Aktion Männer ab, die sich sanft berühren.

Die Abdrucke der intimen und respektvollen Bilder bekommen nun die Förderer und Förderinnen je nach Beitrag, den sie beigesteuert haben, geschenkt. Darauf zu sehen sind unter anderem Familienmitglieder, Freunde und Bekannte des Künstlers. Manche standen schon stärker mit der Thematik in Kontakt, andere wiederum nicht. Demnach sei es wichtig gewesen, ein gemeinsames „Safe Space“ zu erschaffen, berichtet Edsun, also einen Ort, an dem sich jeder sicher fühlen kann. Dies gelte zudem nicht nur für die Fotos oder auch die Performance, sondern sei gemeinhin wichtig, wenn es um Berührungen ginge. Gegenseitiges Einvernehmen müsse an erster Stelle stehen und Übergriffen sowie Grenzüberschreitungen dürfe kein Platz geboten werden.

Kommunikation spielt wichtige Rolle

Demnach spiele Kommunikation in der Vorbereitung des Projekts eine essenzielle Rolle. Diesbezüglich konnte Edsun bereits Erfahrungen sammeln, da er beim Sonic-Visions-Festival 2017 in Belval 2017 eine Performance zum gleichen Thema ausgearbeitet hatte: „Für mich waren die Gespräche von Anfang an wichtig, die Musiker und Tänzer kamen alle zu mir nach Hause, wir setzten uns in die Küche und begannen, miteinander zu reden. Das Ganze zog sich über mehrere Stunden und jeder teilte erst einmal seine persönliche Erfahrung mit. Anschließend erklärte ich, in welche Richtung ich ungefähr gehen möchte, und dann arbeiteten wir in einem Raum vor Ort. Dort konnten wir Dinge ausprobieren, das ging dann über den Weg der Improvisation. Ich versuchte dort, die Geschicke unter anderem über Fragen zu leiten, es ging viel darum, was sich für sie normal, komisch oder sogar gut anfühlt.“

Wie der tänzerische Teil der neuen Performance nun aussehen soll, wird sich in einigen Monaten ergeben. Einfach wird es dennoch nicht, so Edsun: „Dieses Thema in den Tanz hineinbringen zu können, stellt für mich eine Herausforderung dar, wegen des Themas selbst, aber eben auch wegen des Tanzes, weil ich mich fragen muss: Wie kann man eine ehrliche Umarmung darstellen, wie kann man durch Subtilität Berührungen rüberbringen? All diese Details und das Nachdenken über sie machen mich reicher als Künstler und ich bin froh, dadurch wachsen zu können.“