Guilty Pleasures: „Love, Death + Robots“ beleuchtet auf Netflix unser Verhältnis zur Technik

Guilty Pleasures: „Love, Death + Robots“ beleuchtet auf Netflix unser Verhältnis zur Technik

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Während Netflix’ hauseigene Produktionen zunehmend ins Mittelmaß abdriften, funktioniert die Plattform in zweierlei Hinsicht hervorragend: einerseits als Recyclingzentrum für Fremdproduktionen, andererseits als Spielwiese für abseitige Experimente, die von David Fincher und Tim Miller um einen retrofuturistischen Abenteuerspielplatz bereichert wird.

EXTRA
Übersicht der Episoden

Die Reihenfolge der einzelnen Kurzfilme auf Netflix ist zufällig und benutzerabhängig, es gibt keine „richtige“ Abfolge. Diese Liste entspricht der Reihenfolge der Internet Movie Database (IMDb).

1. Sonnies Vorteil
Regie: Dave Wilson
Vorlage: Peter F. Hamilton

2. Drei Roboter
Regie: Victor Maldonado & Alfredo Torres
Vorlage: John Scalzi

3. Die Augenzeugin
Regie: Albertio Mieglo
Vorlage: Alberto Mieglo (Original)

4. Schutzanzüge
Regie: Franck Balson
Vorlage: Steven Lewis

5. Seelenfänger
Regie: Owen Sullivan
Vorlage: Kirsten Cross

6. Als der Joghurt die Kontrolle übernahm
Regie: Victor Maldonado & Alfredo Torres
Vorlage: John Scalzi
Studio: Blow Studio

7. Jenseits des Aquila-Rifts
Regie: Léon Bérelle, Dominique Boidin, Rémi Kozyra & Maxime Luère
Vorlage: Alastair Reynolds

8. Gute Jagdgründe
Regie: Oliver Thomas
Vorlage: Ken Liu
Studio: Red Dog Culture House

9. Die Müllhalde
Regie: Javier Recio Gracia
Vorlage: Joe R. Lansdale
Studio: Able & Baker

10. Gestaltwandler
Regie: Gabriele Pennacchioli
Vorlage: Marko Kloos

11. Helfende Hand
Regie: Jon Yeo
Vorlage: Claudine Griggs

12. Nacht der Fische
Regie: Damian Nenow
Vorlage: Joe R. Lansdale

13. Raumschiff Nr. 13
Regie: Jerome Chen
Vorlage: Marko Kloos

14. Zima Blue
Regie: Robert Valley
Vorlage: Alastair Reynolds

15. Blind Spot
Regie: Vitaliy Shushko
Vorlage: Vitaliy Shushko (Original)

16. Eiszeit
Regie: Tim Miller
Vorlage: Michael Swanwick

17. Alternative Zeitachsen
Regie: Victor Maldonado & Alfredo Torres
Vorlage: John Scalzi

18. Geheimkrieg
Regie: István Zorkóczy
Vorlage: David W. Amendola

Von Tom Haas

Im romanverwöhnten und vom Geniekult gebeutelten Kontinentaleuropa fristet die Publikationsform Anthologie seit jeher ein Nischendasein. Eine Textsammlung von verschiedenen Autoren zu einem Oberthema zwischen zwei Buchdeckeln zusammenzufassen, gleicht einem Sakrileg, da es eine Vergleichbarkeit suggeriert, die jedem Schriftsteller in seinem Streben nach Einzigartigkeit ein Dorn im Auge ist. Anthologien sind angloamerikanischer Schund, zusammengestutzt nach dem Prinzip der Konsumierbarkeit für das einfältige Publikum.

Selbst der Verfasser des trivialsten Groschenromans reklamiert in Europa noch die Autorschaft für sich. Zum Glück fällt diese verkrustete Tradition gerade einem audiovisuellen Angriff aus dem Hinterhalt zum Opfer und über den Umweg der Serie hält die Anthologie auch Einzug ins europäische Kulturbewusstsein.

In dieser Hinsicht leisten David Fincher (Fight Club, Sieben, House of Cards) und Tim Miller (Deadpool) mit „Love, Death + Robots“ Pionierarbeit. 16 der 18 Episoden sind Adaptationen zeitgenössischer Scifi-Kurzgeschichten (siehe Infobox), 15 Animationsstudios haben die Stoffe bearbeitet und gemeinsam eine abwechslungsreiche Annäherung an einen Themenkomplex erschaffen, der sich über die letzten Jahrzehnte in Form von Algorithmen, Smartphones, Gentechnik und Künstlicher Intelligenz rabiat in unserem Alltag breitgemacht hat.

Große Antworten hält „Love, Death + Robots“ nicht bereit, aber die Serie hilft uns vielleicht, die Frage zu formulieren, ohne dass wir dazu Douglas Adams’ berüchtigten „Deep Thought“ konsultieren müssten. Allerdings würde einigen der Rezensenten, die sich der Anthologie in den letzten zwei Monaten angenommen haben, etwas mehr gedanklicher Tiefgang nicht schlecht stehen.

Love

Gerade dieser Aspekt der Serie, der seit Anbeginn die menschliche Kunsterzeugung dominiert, hat in der internationalen Rezeption viel Kritik erfahren – „Die Entmachtung der Frau zieht sich wie ein roter Faden durch die Serie“, schreibt Benjamin Freund bei ze.tt, „Fördert die Serie ’Rape-Culture‘?“, fragt der bayrische Rundfunk und James Temperton von wired unterstellt der Serie einen „pubertären, männlichen Blickwinkel“. Tatsächlich lotet die Serie durchaus grafisch die turbulenten und problematischen Untiefen menschlichen Begehrens aus und gibt dem Zuschauer die Gelegenheit, den eigenen Voyeurismus zu leben – oder eben infrage zu stellen. Und hier liegt der Knackpunkt.

Die intellektuelle Faulheit dieser Interpretationen ist bemerkenswert. Es ist wohl als Abfallprodukt einer wichtigen Empowerment-Kampagne wie #MeToo zu sehen, dass jede Darstellung oder auch Andeutung von Gewalt und nicht-konsensuellem Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Frau in der Kunst inzwischen von neopuritanischen Pseudofeministen als anrüchig gebrandmarkt wird. Diese Entwicklung ist hinsichtlich der Sensationsfixierung verständlich – es ist die bildungsbürgerliche Variante des Boulevards, auf jedes Paar aufblitzender Brüste zu zeigen und ganz laut „Sexismus!“ zu schreien.

Aber die Kunst ist nicht das Werkzeug der unterhaltenden Erziehung, des Edutainments, ist nicht ein Vehikel zur Vermittlung der moralisch einwandfreien, gesellschaftlichen Position, sondern das genaue Gegenteil. Sie konfrontiert uns mit deviantem und problematischem Verhalten, das unser Mensch-Sein seit jeher in ein Spannungsverhältnis zu unserem moralischen Anspruch setzt und fordert uns als Individuen auf, Stellung zu beziehen.
Wer Goethe ein problematisches Frauenbild vorwirft, weil Faust jegliche Skrupel über Bord wirft, um sich Gretchen einzuverleiben, hat den Sinn von Literatur nicht begriffen. Und genau so scheint es den oben genannten Rezensenten zu gehen – sie erwarten, dass Fincher und Miller ihnen das Denken abnehmen, statt es herauszufordern.

Wer sich von den ideologischen Vorannahmen befreit, bemerkt indes schnell, dass die Anthologie sich durchaus im Zeitgeist bewegt und die Probleme toxischer Männlichkeit, Rape Culture und sexistischer Gewalt kritisch thematisiert – so zum Beispiel in der Folge „Die Augenzeugin“, in der ein Mann verzweifelt versucht, sich aus einer Zeitschleife zu befreien, die zum stetigen, ungewollten Tod ebenjener Augenzeugin führt, die er eigentlich retten will. Die wilde Verfolgungsjagd führt durch ein sexualisiertes Klub-Milieu, in dem die ganze Absurdität der Geschlechtlichkeit als Konsumgut mit drastischen Bildern illustriert wird, und zeigt in kaum verhohlener Allegorie damit auf die Ursprünge der Problematik.

Auch „Sonnies Vorteil“, der Eröffnungsfilm der Anthologie, beleuchtet die Gewaltspirale im Kampf der Geschlechter und bringt auch das brisante Thema der weiblichen Komplizenschaft zum Patriarchat auf die Leinwand. Wer dabei nur eine Lesbenszene sieht, sollte vielleicht noch mal im Schulbuch den Begriff der Metapher nachschlagen.

Der Themenkomplex der Liebe erschöpft sich allerdings nicht zwischen Mann und Frau, sondern persifliert in „Die Müllhalde“ beispielsweise die Zuneigung von Haustierhaltern zu ihren vierbeinigen Lieblingen, zeichnet in „Nacht der Fische“ eine entfremdete Vater-Sohn-Beziehung oder beleuchtet unsere Tendenz zur Anthropomorphisierung von Technik in „Raumschiff Nr. 13“.

Nahezu jede Folge enthält ein liebevoll austariertes Spannungsverhältnis zwischen den Protagonisten (und Antagonisten), inklusive Machtspiele und Neckereien, die das Zusammenleben mit anderen so anstrengend unwiderstehlich machen.

Death

Die Anthologie ist aus guten Gründen an ein erwachsenes Publikum gerichtet, denn an der grafischen Darstellung von Tod und Gewalt wird wohl am allerwenigsten gespart. Ein paar Liter Blut weniger hätten dem künstlerischen Anspruch sicher nicht geschadet, trotzdem fügt sich das Stilmittel im Kontext des Genres sauber ins Gesamtbild ein. Die gezeigten Auseinandersetzungen und Kämpfe sind dabei nicht die schockierendsten Momente – in „Helfende Hand“ gibt es keinen Kampf außer jenen der Astronautin ums nackte Überleben im Weltall, trotzdem wird hier der Tod am ehesten greifbar, die Gewalt erfahrbar.

Der gewaltsame Tod ist allerdings nur ein Teil der Betrachtung, welche die einzelnen Kurzfilme leisten. Die absolut geniale Folge „Zima Blue“ geht dem Werden und Vergehen des intelligenten Lebens selbst auf den Grund und stellt dabei fast beiläufig eingewoben die Frage nach dem Ursprung und dem Zweck der Kunst. „Drei Roboter“ hingegen lässt die titelgebenden Protagonisten durch die postapokalyptischen Ruinen der ausgestorbenen Menschheit wandern und durchaus humorvoll über das sinnieren, was von uns bleiben wird, sollten wir dereinst nicht mehr sein – und ja, der mit Konservierungsstoffen überladene Hamburger wird uns überdauern.

Die zweifelsohne bizarrste Folge ist jedoch das Werbevideo für eine App namens „Multiversity“, die es erlaubt, zu Forschungszwecken historische Ereignisse zu verändern, um alternative Zeitstränge zu erforschen. Illustriert wird das an sechs Beispielen eines verfrühten Ablebens von Adolf Hitler, der unter anderem zusammengeschlagen, von Wiener Prostituierten zu Tode kopuliert, von einem Wackelpudding erschlagen und von einer Pferdekutsche mit Bratwurstladung überfahren wird.

Was auf den ersten Blick völlig absurd daherkommt, ist eine bösartige Spitze auf die Obsession der Alternate-History-Fiction und die Was-wäre-wenn-Fragen, die die ganze mögliche Abstrusität frei rotierender Fantasie am Lieblingsstrohmann sämtlicher Internetdebatten ausschlachtet.

Robots

Science-Fiction lebt von der Faszination für Technik, trotzdem stiftet der dritte Themenkomplex der Anthologie oft eher den erzählerischen Rahmen, als dass er das Schwerpunkt der Handlungen bildet. Die Ausnahme bildet hier neben den erwähnten Folgen „Drei Roboter“ und „Zima Blue“ ein weiteres Juwel der Anthologie, nämlich „Gute Jagdgründe“. Basierend auf der Kurzgeschichte von Ken Liu handelt es sich um chinesische Science-Fiction, die alte Volkssagen und Steampunk in einer Geschichte um die koloniale Modernisierung Chinas verwebt. Protagonist ist der Sohn eines Geisterjägers, der sich in einen Fuchsdämon verliebt und dieser in der industriellen Revolution verlorenen Sagengestalt einen neuen Körper aus Metall baut. Was abgedreht klingt, ist ein auf vielen Ebenen berührendes und nachdenklich stimmendes Märchen in einem ungewohnten Gewand und sowohl erzählerisch als auch visuell eines der Highlights der Serie.

Im Großen und Ganzen ist jedoch die Robotik den klassischen Mustern des Genres treu geblieben – einen Umstand, den man durchaus bemängeln kann, denn die Kühnheit, die an anderen Stellen der Anthologie an den Tag gelegt wurde, vermisst man hier schmerzlich. Cyborgs, simulierte Realitäten und Mensch-Maschine-Schnittstellen sind nicht neu und auch nicht mehr aufregend.

Am stärksten ist „Love, Death + Robots“ tatsächlich, wenn die Serie sich auf die Personen konzentriert, auf die anthropomorphen wie auf ihre menschlichen Gegenparts – und zeigt dabei wohl versehentlich, dass unbelebte Materie kein Stoff für gute Geschichten ist. Die Freude an technischen Spielereien ist den Machern anzumerken, einen virtuosen und sinnvollen Umgang damit findet man aber zum Beispiel eher in der Serie „Knights of Sidonia“.

„Love, Death + Robots“ ist ein mutiges Projekt von visionären Produzenten, die eine große Liebe zur klassischen Science-Fiction eint. Die Kenntnis und Verarbeitung literarischer Vorlagen ist in weiten Teilen ebenso gelungen wie die visuelle Umsetzung. Die schwächsten Momente hat die Serie in ihrem Streben nach Fotorealismus, die stärksten Szenen leben durch ihre Stilisierung mit Hang zum Absurden.

Die Anthologie erschafft eine fragmentarische Sammlung an beunruhigenden Postkartenmotiven aus einer Vielzahl an Zukunften, die uns hoffentlich allesamt erspart bleiben, hält jedoch immer am Bezug zur Gegenwart fest und lässt den sich heute schon andeutenden Möglichkeiten technologischen Wandels freien Lauf. Gute Science-Fiction hat immer die Gesellschaft von heute im Hinterkopf, wenn sie die Gesellschaft von morgen entwirft. Vor dem Hintergrund gilt für „Love, Death + Robots“ eine uneingeschränkte Sehempfehlung, die Vielfältigkeit der Filme eröffnet hoffentlich jedem einen Zugang zum Abgrund.